Vertrauen wieder hergestellt

Filbinger weicht Späth


„Rücktritte dienen unter anderem dazu, die politische Atmosphäre zu reinigen und einen neuen Anfang zu ermöglichen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 8.8. 78)

Am 8. August war es endlich soweit. Eine „Affäre“, die fast über 6 Monate hinweg den Dauerbrenner auf den ersten Seiten des westdeutschen Blätterwalds stellte, fand ihren lang erwarteten und vielfach als unschön kommentierten Abschluß: „Einer der verdienstvollsten Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte“, der es unter den neidvollen Blicken seiner politischen Gegner verstanden hatte, mit der überwältigenden Zustimmung des „fleißigen und redlichen“ Schwabenvolks ( den deutschen Südwesten zum „Musterländle“ und in Verbindung damit sich selbst zum „Bollwerk gegen den Sozialismus“ aufzubauen, wurde „mit großem Respekt vor seiner schweren Entscheidung“, den ihm eben die bekundeten, die ihn dazu gezwungen hatten, zurückgetreten.

Und während Hans Filbinger noch den Verlust seines politischen Amtes als Zeichen für den drohenden Ruin der freiheitlich demokratischen Ordnung wertete und sich und seine schwer ramponierte „persönliche Ehre“ zum Opfer einer „von den vereinigten Linkskräften unseres Landes“ geführten „Rufmordkampagne“ hochstilisierte, begann sich – ganz im Gegensatz zu solch düsteren Visionen – die durch des Ministerpräsidenten a.D. stark verschmutzte „politische Atmosphäre zu reinigen“.


Altes Vertrauen durch neue Köpfe

Der „neue Anfang“ präsentierte sich gleich in Gestalt zweier demokratisch hochqualifizierter Nachfolgekandidaten, die sich den Platz auf dem geräumten Sessel des Ministerpräsidenten streitig machten, indem sie unisono verkündeten, daß es durch sie „keine generelle Kurskorrektur“ (Rommel) an der Politik ihres geschaßten Vorgängers geben werde, sich vielmehr

„angesichts der zurückliegenden Wahlerfolge ... der klare Auftrag (ergehe), die Politik Filbingers fortzusetzen“ (Späth).

Staatstragende Besorgnis, die Filbinger selbst von Seiten seiner Partei den Vorwurf eintrug, er habe „als einer der höchsten Repräsentanten des Staates durch sein Handeln die Glaubwürdigkeit der Demokratie beeinträchtigt“, wich schlagartig da öffentlicher Befriedigung, als „neue Köpfe“, d.h. die alten Köpfe aus der Umgebung des Ministerpräsidenten, die alte Politik als adäquates Mittel zur Sanierung des angeschlagenen Vertrauens anpriesen.

Herrschte somit allgemeine Übereinstimmung darüber, daß das Handeln eines Staatspräsidenten nie wegen des mit ihm verfolgten Zwecks, sondern nur insofern zum Streitpunkt wird, als an seiner Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit Zweifel angebracht werden können, so war schließlich auch die fiese Charaktermaske eines vom schlagkräftigen Innenminister im Kabinett Filbinger zum Kabinettschef aufgestiegenen Parteikarrieristen beredtes Zeugnis dafür, daß die mit ihr gefeierte „Wiederherstellung des Vertrauens“ nicht heißt, daß Politikern zu trauen ist.


Die Vertrauensfrage

Daß die ganze Latte öffentlicher Anschuldigungen, die den anerkannten Staatsmann Filbinger zum „Fall“ werden ließen und letztlich seinen Fall in die weichen Kissen eines Ministerpräsidentenruhestands herbeiführten, keineswegs das Handwerk dieses „pflichtbewußten“ Deutschen betrafen, das ihm gerade den reibungslosen Übergang vom bis zu den letzten Stunden des Faschismus und noch darüber hinaus staatsdisziplinierten Marinerichter zum staatsaufbauenden demokratischen Politiker ermöglichte, dafür war noch jeder Angriff einer aufgescheuchten demokratischen Öffentlichkeit Beleg.

Stets war die Tatsache, daß er in der unschönen Vorzeit unseres heute so glänzend wie nie dastehenden Staatswesens für die endgültige Eliminierung von Leuten Sorge trug, die sich der „Ausrichtung auf das Übereinzelne“ widersetzten, nur Anlaß, um daran die Wirkung auf die Überzeugungskraft der von ihm repräsentierten staatlichen Gewalt zu debattieren.

Kein Wunder also, daß einem Schullehrer (ein CDU- und „von Herkunft und Haltung ein nationaler Mann“) die braune Studentenzeit des Ministerpräsidenten erst dann wieder einfiel und zu einem öffentlichen Brief veranlaßte, als der ehemalige Kommilitone zum Unsicherheitsfaktor für die Erreichung des obersten Lernzieles seines Gemeinschaftskundeunterrichts geworden war („wie soll ich meinen Schülern ... Vertrauen zu unserem demokratischen Staat vermitteln, wenn ..,).

„Ich bin der Meinung, daß ein Politiker, der diese Vergangenheit hat und sie abstreitet (!), unter keinen Umständen an die Schalthebel unseres Staates gehört.“ (Lehrer Bitzer im Stern)

Tiefer in die gleiche Kerbe schlug ein Stern-Kommentator, der den Ministerpräsidenten, der es sich wie kaum ein anderer im Land in seiner langjährigen Amtszeit zur vornehmsten Aufgabe gemacht hatte, die von ihm vertretene Gewalt schon im vordersten Vorfeld ihrer Infragestellung zuschlagen zu lassen, kurz weg zum „geistigen Vater des Terrorismus“ und damit zum Sicherheitsrisiko für die Demokratie erklärte :

„Jeder Tag, den er länger an seinem Stuhl klebt, zeugt neue Kinder der Gewalt“ (Stern – 8. Juni)

Selbst die Mutter des unter Filbingers Oberaufsicht ordnungsgemäß abgeurteilten und diszipliniert um die Ecke gebrachten Soldaten wurde – wie sie in einer Illustrierten zum Besten gab – nur deshalb aufs Krankenlager geworfen, weil ihr „gefallener“ Sohn aufgrund mangelnder Amtsmüdigkeit seines ehemaligen Richters für eine allgemeine „Aufregung“ sorgte, die dem Ansehen heutiger (ruhiger!) demokratischer Zustände nur abträglich sein konnte:

„Wenn Sie sofort alles zugegeben hätten, würde sich niemand mehr mit den anderen Fällen beschäftigen.“ (Mutter Gröger im Stern)

Diese eindrucksvolle Verwandlung persönlichen Betroffenseins in die (sogar physisches Leiden verursachende) Sorge um die Glaubwürdigkeit staatlicher Gewaltausübung ließ Filbinger wenn auch kalt („Ich wünsche Ihnen gute Besserung!“), so doch nicht unbeantwortet. Er stellte Mutter Gröger eine Denkaufgabe:

„... ob die Öffentlichkeit, in die das Schicksal ihres Sohnes und das Ihrige gestellt wurde, wirklich nur Ihrem Sohn und Ihnen zuliebe aufgeführt wird. Könnte es nicht sein, daß es denjenigen, die Ihrem Sohn und Ihnen keine Ruhe lassen, in Wahrheit um ganz andere Dinge geht?“

Eine absolut blödsinnige Frage, weil kein Mensch (und auch nicht die Befragte) in der ganzen Auseinandersetzung jemals Unklarheit darüber hatten aufkommen lassen, daß es hier nur um ein „Ding“ ging: den Staat, der zur Ausübung seiner Gewalt des Anscheins von Vertrauen in Gestalt seiner Repräsentanten bedarf.


Maßstab und begreifbare Vergleiche

Klar, daß hier ein Erhard Eppler – wie es sich für einen ordentlichen Oppositionsführer gehört – die Stunde gekommen sah, um sich und seine bei den letzten Wahlen stark ins Hintertreffen geratene Mannschaft wieder ins rechte moralische Licht zu rücken:

„Wir fordern seinen Rücktritt, weil kein Staat sich vertreten lassen kann von Menschen, die für sich keinen der Maßstäbe gelten lassen, die sie an andere anlegen.“

Da nun mal der „Maßstab“, den der Staat an alle seine Bürger gleich anlegt, immer die größere Hälfte derselben auf's „Maßhalten“ verpflichtet, um darüber dem „Wachstum“ Vorschub zu leisten, so soll dies wenigstens in einer Form passieren, die nicht unnötig Zweifel bei den Betroffenen darüber aufkommen läßt, daß ihr Schaden auch „in der dem Amt angemessenen Würde vollzogen“ wird.

In diesem Sinne erwies sich auch das gegen Filbinger allseits bemühte Beispiel des Radikalenerlasses als brauchbar. Nicht etwa, um an dessen staatlicher Praktizierung überhaupt oder gar an der – wirklich nichts, zu wünschen übriglassenden – Intensität, mit der Filbinger (von jeher) alles Staatsfeindliche aufzuspüren und (den Zeitläuften entsprechend) zu ahnden verstand, rumzukritteln. Nein, ausschließlich ein Vorwurf geisterte durch alle Gazetten, daß der Ministerpräsident das nötige Ehrenmann-Image verspielt habe, das ordentliche Staatsbürger auf seiten derer so schätzen, von denen sie eins übergezogen bekommen:

„Wie soll eine junge Generation die Strenge begreifen, mit der man Verfassungsfeinden und (!) Jugendsünden auf der Spur bleibt, wenn sie gleichzeitig erkennen muß, wie lange führende Träger dieses Staats mit ihrer belasteten Vergangenheit folgenlos auskommen können.“ (SZ)

Perfide, wie hier Staatssaubermänner die – weil schon einmal unter anderen Umständen erfolgte –  Anwendung der Staatsgewalt mit ihren aktuellen Opfern auf den gleichen Nenner: „Verfehlungen gegen den demokratischen Staat“ brachten, um so ihre brutale Forderung loszuwerden, daß auch wirklich jedem die ihm zukommende gerechte staatliche Lektion erteilt wird.

So löste sich ihre Sorge auch dann in allgemeinem Wohlgefallen auf, als die „Strenge“, mit der der starke Arm des Staats seine Kritiker an ihrer Existenzsicherung hindert, durch den Abgang eines seiner Repräsentanten in den mehr als gesicherten Ruhestand wieder „begreifbar“ geworden war.


The Show Must Go on

Bis zu dem Zeitpunkt allerdings, an dem, sich „die Machtlücke“ wieder „zu schließen begann“ und die Oppositionsbänkler im baden-württembergischen Landtag an dem neugebackenen Ministerpräsidenten und alten Parteivorsitzenden begrüßen konnten, „daß jetzt die Periode der Handlungsunfähigkeit zu Ende geht“, war nicht nur von den Gegnern des so unliebsam ins Gerede geratenen Hans Filbinger ein anschauliches Lehrstück in Sachen Staatsökonomie geboten worden.

Wo rundum Einigkeit herrscht im gemeinsamen Ziel, dem demokratischen Staat die für ihn so elementare Handlungsfreiheit gegen seine Bürger zu erhalten, da gerät das angeschlagene Ansehen eines Politikers für die eine Seite zum willkommenen Anlaß, um es auszunutzen und sich selbst als die sauberere Variante der Gewaltausübung anzupreisen, für die andere zum Streitpunkt, ob und wie lange man ihn sich noch in den vordersten eigenen Reihen leisten will.

Gerade die CDU lieferte darin einen eindrucksvollen Beweis für die Funktionsfähigkeit demokratischen Getriebes, wie sie eines ihrer Renommierstücke zuerst durch eine Reihe von „Ehrenerklärungen“ stützte und dann nach und nach (bis zum Landesvorsitzenden) abbröseln ließ. So wurde er wegen des „Vertrauensschwundes“ von dem einen Posten entlassen und auf den anderen wegen des großen „Vertrauens“ in ihn (noch bis zum nächsten Parteitag) belassen.

Hatte man nämlich anfangs noch darauf gesetzt, daß die Mehrzahl der Wähler die „respektable Nachkriegsleistung“ dieses Mannes als Ausfluß seines schon immer konsequenten Einsatzes für die richtige Sache zu würdigen wisse (im Gegensatz zu so manchem Sozi, dessen Vergangenheit man ja zur Genüge kennt oder – noch schlimmer! – nicht kennt!), so wurde mit zunehmender Dauer der „herabwürdigenden Diffamierungs-Kampagne“ doch die Besorgnis laut, daß über den dadurch notwendig gewordenen Abwehrmaßnahmen die Regierungsgeschäfte leiden könnten, später die Reaktion des Betroffenen als „Ausdruck unkluger Beratung und fehlerhafter Strategie“ moniert und schließlich – angesichts eines demoskopisch ermittelten „Formtiefs“ der CDU (was wiederum den wahlkämpfenden Freunden gar nicht in den Kram paßte!) nur noch um das Wann und die günstigste Inszenierung des bevorstehenden Abgangs gerungen.

Und während Filbinger sich noch in den Schweizer Bergen für den Endkampf gegen eine „Verschwörung“ trimmte, die – wie er düster zu erzählen wußte – die kommunistische Internationale in Belgrad gegen ihn speziell ins Werk gesetzt habe, stellten seine in Frage kommenden Nachfolger schon die Bühnenbilder für einen „einigermaßen honorigen Abgang“ auf, indem sie ihm öffentlich Ratschläge über die Möglichkeiten von dessen Gestaltung erteilten:

„Ich würde ihm nicht raten, jetzt leise weinend zu verschwinden. ... , dann würde man sagen, aha er hat gelogen.“ (Rommel)

„Ich würde mir (!) nicht wünschen, daß F. von sich aus erklären würde, er trete zurück.“ (Späth)

Ersteres tat Filbinger natürlich nicht (ein Politiker seines Kalibers weint nicht! – dafür seine Frau), zweiteres bekanntlich nur widerwillig, nachdem ihm seine Parteifreunde hatten wissen lassen, daß ihre Freundschaft da endet, wo

„keine Ansicht mehr besteht, daß das Vertrauen in ihn bis zur nächsten Landtagswahl wiederhergestellt werden könne.“


Den Blick nach vorn

Wo Wähler nicht wegen der Schweinereien, die ihnen Politiker tagtäglich servieren, vom Vertrauensschwund in sie geplagt werden, sondern wegen der „Art und Weise“ in der dies geschieht (Filbinger war ein „Opfer seiner eigenen Ungeschicklichkeit“), da ist auf Seiten einer Regierungspartei sowohl die als geglückte Vertrauensreparatur gefeierte Präsentation neuer Köpfe wie das Rollen(wechseln) der alten Resultat einer taktischen Nutzenabwägung.

Demnach war auch Filbingers Verbleib in führenden Parteiämtern weder ein Widerspruch:

„ ... niemand hat ihn ... wegen seiner parteipolitischen Konzeption für Baden-Württemberg angegriffen. Warum soll dann die Konsequenz sein, daß er hier politisch nicht mehr wirken soll?“ (L. Späth)

noch verdankt er sich der, die letzte Konsequenz scheuenden, psychischen Disposition (Mitleid!) auf Seiten derer, die ihm den Stuhl des Ministerpräsidenten wegzogen. Das moralische Gezeter der Opposition über die „ Unehrlichkeit“ dieses Rücktritts ging im tosenden Beifall des anschließenden Parteitags der schwäbischen CDU unter, wo ein verdienstvolles Opfer seine zeitlose Brauchbarkeit – wenn auch in veränderten Funktionen – für das immer Gleiche in der bejubelten Aufforderung zum „Blick nach vorn“ für die Sache des Staats demonstrierte.

Mittlerweile ist der „Fall Filbinger“ – wie es sich für eine ordentliche politische Affäre gehört – aus den Schlagzeilen geraten und politische Ambitionen des Ministerpräsidentenpensionärs werden von der Partei abgedämpft, sofern sie das angemessene Wirkungsfeld eines ratgebenden Elder Statesman überschreiten. Einen angekündigten Ausflug ins Europaparlament muß der rüstige Renner selber dementieren und als einzige Nachwirkung seines Abgangs macht der „Spiegel“ den verfrühten Zeitpunkt des Beginns der Debatte darüber aus, ob man nicht endlich einen Strich unter „das Stochern in der Vergangenheit“ durch eine Nichtverlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen ziehen sollte, weil damit die von Strauß beklagte „unheilvolle Spaltung unseres Volkes“ beendet würde. So fügt Filbinger der langen Reihe seiner Verdienste um das Vaterland ein letztes hinzu: seine „ Verstrickung in die deutsche Vergangenheit“ lieferte einen „Denkanstoß“.

 

aus: MSZ 25 – Oktober 1978

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