Politischer Feierabend:

Über die Schwierigkeiten linker Literatur

Im Zeichen der Nostalgie scheinen Menschen einander näher gekommen zu sein, die sich früher nicht einmal mit dem Hintern anschauen mochten. An Differenzen der Vergangenheit hat man jetzt doch wenigsten gemeinsamen Anteil. Nicht daß sie damit vergessen wären – man weiß sich durchaus noch in ihrer Kontinuität –, aber nach allem, was auf der Welt so passiert ist und wie es heute steht, bekommen Unterschiede etwas Relatives. Überall macht sich das Fraternisieren bemerklich: die Jungen haben sich mit den Alten, denen sie nicht trauen mochten, verständigt, die Linken ernten literarische Früchte bei denen, die sie einstmals als Establishment bekämpften, selbst über den Kalten Krieg hat sich eine wärmende Erinnerungshülle gelegt. Reportern des STERN fiel auf Reisen durch die DDR zum Beispiel unlängst auf, daß es dort Menschen gibt, die um das Weiterkommen Ihres Fußballmeisters im Pokalwettbewerb zittern können, sich freuen über einen Urlaub an der Ostsee und denen im Betrieb und zuhause auch nicht alles recht Ist. Darin versteht man einander. So haben auch die, die mit der Beobachtung gesellschaftlicher Zustände betraut sind, festgestellt, daß sich hier eine Tendenz abzeichnet. Im „Rückblick auf die kulturelle Szene 1974“ (DIE ZEIT v. 27. 12. 74) wird so etwa von einem westdeutschen Kritiker die „Rückkehr des Ich“ in der Literatur begrüßt, die „sich (nährt) aus neu erwachtem Interesse am Privaten, Überschaubaren, das dem Überdruß an der politisierten Umwelt und der Enttäuschung über das Ausbleiben oder die Perversion von Reformen entspricht.“ Selbst in der DDR brachte die kulturelle Selbstbesinnung, die Ihren Höhepunkt in den vorbereitenden Diskussionen zum 25. Jahrestag der Gründung der Republik fand, einen Trend zur Selbstbesinnung auf das Individuelle. Literaten wie Hermann Kant betonen als „neues Selbstverständnis“ der DDR-Kunst, daß sie zu einem eigentümlichen „tieferen Begreifen“ gefunden habe, das „durch nichts ersetzt werden kann und auf den ganzen Menschen gerichtet Ist, auf die Summe seiner Bedürfnisse.“ (Frankfurter Rundschau, 13. 7. 74) Kalten Kriegern, die auf den Stil des Sozialistischen Realismus der Stalin-Ära eingeschworen sind, wird kurzerhand erklärt: „Der berüchtigte positive Held ist nicht mehr,... an seine Stelle tritt ein Realismus, der von den Menschen im Sozialismus berichtet.“ (Heym, Süddeutsche Zeitung v. 9. 10. 74) In diesen Einschätzungen aus Ost und West drückt sich eine Richtung aus, der Hang zur Darstellung der eigentlichen Probleme des Menschen in seiner Welt. Bei DDR-Denkern läßt sich so auch der gelassene Satz finden, der Mensch gehe in Ideologie schließlich nicht auf.

 

Die Leiden des jungen Werther

So konnte es geschehen, daß man im Rahmen eines beiderseits offiziell betriebenen Kulturaustauschs längst über das äußerliche Vergleichen der Produkte hinaus war und sich zu den Aufgaben einer Kunst bekannte, die seit Jahrhunderten vertraut erscheinen. Nachdem die Grenzen somit gefallen waren, die Kunst sich wieder dem menschlichen Leben zugewandt hatte, begannen auch Menschen in der Kunst zu leben, wie folgendes ungewöhnliche Beispiel belegt:

Da ist es doch unlängst passiert, daß sich in Hildesheim ein junger Mensch so mit den ästhetisch aufbereiteten Problemen der Jugend drüben identifizierte, daß er unter der Last schier zusammenbrach (die Münchner Abendzeitung berichtete darüber): Das Werther-Fieber, an dem – laut AZ vom 15. 1. – schon Napoleon laborierte und das jüngst den DDR-Literaten Plenzdorf zu seinem Erfolgsstück über das Unglück junger Menschen in der Sozialistischen Gesellschaft inspirierte (Die neuen Leiden des jungen W.), hatte auch ihn gepackt. Die Symptome dieser Krankheit an der Gesellschaft sind seit 1774 näher bekannt. Sie zeigten sich schon damals darin, daß das Individuum „Konventionen sprengte und von einer Gesellschaftsordnung träumte, die das Recht auf Selbstverwirklichung gewährt, … ein Thema also, das Vieles, aber nicht alles von seiner Aktualität verloren hat. Siehe Plenzdorf, siehe Hildesheim, siehe DDR oder BRD.“ (AZ)


Hier steht ein Mensch ...

Nach allem kann es niemanden wundern, daß Literatur aus dem politisch verfeindeten Teil der Welt so gut bei uns ankommt. Das zeigen auch einheimische Produkte. Weniger spektakulär sind zwar die literarischen Veröffentlichungen, mit denen die politische Linke Westdeutschlands neuerdings hervorgetreten ist – dennoch werden auch ihre Bemühungen, von den Schwierigkeiten, die mit der Politik sich einstellen, zu berichten, grundsätzlich honoriert und sind aus der heutigen Literaturszenerie nicht wegzudenken. Wohl hatte man früher für linke Parolen so wenig übrig wie für Ulbrichts Spitzbart, aber was den braven Bürger damals schreckte, ist ihm längst vertraut: ganz gerne wird er einmal darüber ins Gespräch kommen wollen, welche Vorstellungen über die Welt in solchen exotischen Geschöpfen existieren. Genau solche Einblicke aber sind heute dank der Literatur möglich. Läßt die Literatur seit einigen Jahren auch die Arbeiterindividuen selbst zu Wort kommen, so darf man jetzt das Gefühl haben, daß auch Linke über ihre Probleme von Mensch zu Mensch sprechen. Ein Blick auf den Büchermarkt genügt, um festzustellen, daß auch ihre Publikationen dem generellen Tenor der Literatur Genüge tun und sich das Menschliche zum Gegenstand genommen haben: da stehen Bekenntnisse aus ihrer politischen Kampfzeit (Schneider) gleich neben den Kanzler- Memoiren; in Tagebüchern spricht man von allem, was einem zugestoßen ist (Struck); und da taucht der politische linke Werdegang neben Lilly Palmers, Kindheitserinnerungen auf (Timm), so daß man sich erwartungsvoll fragt, wann denn nun endlich der Schlüsselroman Jürgen Horlemanns „Wie ich einmal meine Klasse verriet“ und Rudi Dutschkes Erinnerungen an seine Kampfzeit erscheinen.

Daß diese Tendenz nun gerade modisch sei, sagt allerdings zu wenig. Insofern sie auf dem Boden der Literatur vor «ich geht, hat sie mit dieser selbst zu tun. Die Literatur steht dieser Mode gewissermaßen offen. Mit ihrem Anliegen, „die Erfahrungen, die Hoffnungen und Leiden“ (Struck) der Menschen „anschaulich und unterhaltsam“ (Timm) zu erzählen, kommt sie dieser entgegen: Sie gibt den Tummelplatz für jene Gefühle ab, in denen den Menschen ihre realen Divergenzen entrücken. Auch nach DDR-Auskunft sollte sie sich ja durch ein tieferes Begreifen auszeichnen, das allen Lesern gewährt, an den dargestellten Konflikten menschlichen Anteil zu nehmen. So kommen die einander näher, die in der Realität aneinandergeraten sind. Verständigung ist jedenfalls die Intention all derer, die mit dem Hervorbringen solcher Literatur befaßt sind. Die Nöte der Unterdrückten dieser Gesellschaft oder gar linker Systemveränderer selbst haben dabei kein minderes Recht auf Verständnis als die ihrer bürgerlichen Gegner.


Kleiner Mann, was nun?

„Die kleinen Leute groß machen. Ihnen näherkommen … Wer schreit denn »Psychologismus«? Wer? Die Bürgerlichen haben durch ihre Literatur jede Kleinigkeit ihres Lebens groß gemacht. … Wie Proust die Verlorene Zeit aufsuchen.“ (Struck, 246 F)

Nicht daß linke Autoren ihre Produkte nur als Roman oder Erzählung bezeichnen, sie schreiben ja tatsächlich welche und keine politischen Pamphlete.Von offenen Agitationsabsichten ist bei ihnen jedenfalls nicht die Rede: „Autoren-Edition: dieses Wort steht für den Versuch einer neuen realistischen Prosa … Die Realität selber ist das Thema der Autoren-Edition.“ (Timm) Diese Leute meinen es ehrlich: „Wo kann ich in die Lehre gehen, schreiben zu lernen? … Ich möchte einen Film machen, nur über meinen Vater, der ein Gebiß bekommt …“ (Struck, 270 f.)

Den angeführten linken Artisten geht es augenscheinlich um Aussagen von Individuen selber. Die Literatur soll es zustandebringen, über bestehende Widersprüche hinaus, alle Menschen zu gemeinsamer Einsicht zusammenzubringen. Und wer würde nicht mitfühlen: wird Karin Strucks Buch eingeleitet: „Indem Karin Struck von sich selbst spricht – über die Selbstentfremdung, ihre Todesängste und die Vorbereitungen für ein ungezwungeneres Leben –, spricht sie von allen, mit denen sie zusammenhängt …“ Auch von linken Schriftstellern wäre demnach zu erwarten, daß sie mit ihrem Bekenntnis zur Literatur den Menschen die Freude des Einverständnisses bereiten.

 

Die Linkskurve

Zu einem vorbehaltlosen Vergnügen möchten sie es von sich aus nur allerdings doch nicht kommen lassen. Sie haben sich extra etwas ausgedacht, um dem Kunstgenuß noch eine interessante Färbung zu geben. Sie wollen mehr erreichen als nur geneigtes Verständnis. Ihnen steht der Sinn – wie könnte es anders sein – nach politischer Einsicht. Der aufrechte Kommunist tut sich da leicht, so wie neulich der Kommunistische Hochschulbund in München, der seine politischen Forderungen in Versform aufstellte („Höre Kanzler, Kumi-Knecht! Wir fordern, und wir sind im Recht …“). Da weiß man doch, wo man dran ist.

So hat zum Beispiel auch auf dem 5. Schriftsteller-Kongreß der DDR Erich Honecker den folgenschweren Satz herausgelassen, die im übrigen durchaus „eigene Weise“ der Literatur, Bewußtsein zu bilden, könne lediglich „zur Herausbildung sozialistischer Überzeugung beitragen“. Das kann natürlich vergrämen, denn hier wird offen ausgesprochen, daß der Zweck der Literatur in ihrer Funktion für etwas anderes liegt: in ihrem Charakter als Kampfmittel für eine bestimmte Ideologie. Diese steht von vornherein fest. Von daher kommt der Literatur lediglich ein demonstrativer Effekt zu. Sie soll auf ihrem Gebiet zeigen, was man anderen Orts längst weiß. Das Menschliche, mit dem Literatur befaßt ist, kommt nur in einem Zusammenhang vor, der von vornherein als politischer bestimmt ist. Solche Literatur versteht sich selbst als parteilich. Sie findet literarische Ausdrucksformen für eine ihr vorausgesetzte Überzeugung.

Solch unliterarische Absichten sind natürlich Wasser auf antikommunistische Mühlen. Da soll – man denke – für den Sozialismus geworben werden! So wäre es denn nur linkes Raffinement gewesen, den Menschen ein Einverständnis anzudrehen, das sich nachher als rotes Katzentier im Sack herausstellt. Es hat den Anschein. Sind die legendären positiven Helden des Sozialistischen Realismus, der weise Baggerführer, der prächtige Muschik etc. tot, um als personifizierte Sprachröhren des Zeitgeistes fungieren zu können, so ist es doch keineswegs ihre Weltanschauung. Es braucht nicht gleich „den Ruf nach durchbluteten Gehirnen und nach den Breitschultrigen“, den Johannes R. Becher 1929 ausstieß (in: Die Linkskurve, Nr. 1), um mit sozialistischer Ideologie hausieren zu gehen. Da reicht ein Roman hin, der an sicherer Hand leise ins gelobte Land führt. Von dieser Seite her stellt sich linke Schriftstellerei als ein etwas komplizierter Weg dar, zu dem immer gleichen Zweck zu gelangen (Merke: Alle Wege führen nach Moskau).

Dagegen freilich würden sich unsere Autoren verwahren. Wie sich ihre politischen Ambitionen in Literatur realisieren, das soll im folgenden an den genannten drei Romanen dargestellt werden.


POLITIK ALS ROMAN

Am Beispiel dreier Romane (Karin Struck: Klassenliebe, Uwe Timm: Heißer Sommer, Peter Schneider: Lenz)

Karin Strucks Buch hat zum Thema das Los derer, die wie sie „Arbeiterherkunft sind.“ Sie notiert ihre Alltagserfahrungen. Wenn sie schreibt, „ich will die kleinen Leute groß machen. … Warum sollte ich nicht so Wichtiges über meine Klasse schreiben wie Proust über seine?“ (246 f.) dann schwebt ihr von vornherein ein gesellschaftlicher Antagonismus vor, dessen Existenz sie auf literarische Weise begründen will. Soweit sie mit ihrem Tagebuch das Klassenmäßige am Leben herausstellt, etwa an ihren Liebesgeschichten, in denen sie sich als „aufsteigendes Arbeiterkind“ beschreibt, nennt sie ihren Roman zu Recht „Klassenliebe“. Auch bei dem, was sie über andere schreibt, geht es um deren Zuordnung zum Klassenunterschied: „Wenn ich jetzt nichts vom Marxismus wüßte. Wenn ich nicht wüßte, daß es Klassen gibt. Bin ich eine Klasse, fragt die Fabrikantenfrau. … Manchmal kommt meine 65 Jahre alte Putzfrau, aber meistens und das Meiste mache ich selbst. …“ (259) Erst insoweit sie diese Zuordnung versucht, Kommt die Lesart ihres Buchtitels zum Tragen, die ihr Verlagslektor vorschlägt: „Karin Strucks erstes Buch ist der ungewöhnliche literarische Ausdruck ihres Klassenhasses und der Liebe zu ihrer Klasse.“ Deren „innere Not“ muß allererst nachgefühlt sein, dann kann man sie liebenswert finden: „Der Traum vom eigenständigen Leben und von einem freien Dasein. Adenauer erkennt, daß jeder sein Häuschen haben muß. Jedem Arbeiter sein Häuschen. Und die Kommunisten erkennen nicht, daß diese Wünsche wirklich und wahrhaftig berechtigt sind. Daß diese Sehnsüchte in sich gut sind.“ (252)


Die Liebe ist ein seltsames Spiel

Daß es diesen Wunsch gibt, unterliegt so wenig einem Zweifel, daß auch unpolitische Menschen sich fragen werden, inwiefern sich gerade darin das Bewußtsein einer Klasse ausdrücken soll. Damit ist Strucks Problem im Kern getroffen. Auf der Suche nach politischen Kriterien für das, was sie täglich umgibt, gerät sie ins Dickicht ihrer eigenen Maßstäbe. „Klassenliebe“ ist Paradebeispiel für die Verirrungen, in die ein engagierter Schreiber geraten muß, wenn er politische Scheißhaus-Parolen auf seine eigenen Erfahrungen anwendet. So sollte denn in der Tat die von Struck an sich selbst so bejammerte Arbeiter-Herkunft (einer ihrer Großväter soll Landarbeiter gewesen sein) ihren Liebesbeziehungen Klassencharakter auferlegen? Ist ihr Hang, von einem bürgerlichen Mann Kinder auszutragen, proletarisch, oder gar die Abneigung ihres proletarischen Ehemanns dagegen bürgerlich? Ist es bürgerlich, daß man ihrer Intellektuellen Karriere mit Bedenken gegenübersteht, oder Ist solche Skepsis gegenüber geistigen Berufen gar proletarisch? Wie tief solche Fragen in den Wald führen, dokumentiert Karin Strucks Buch. Das belegt schlagend ihre Sorge um dessen unverfälschte Natürlichkeit. Sie kann sie nicht denken: „Alle diese pervertierten Begriffe.“ (36) Oder deutlicher noch: „Die Sehnsucht des Menschen nach Gesundheit. Die Ausbeutung dieser Sehnsucht.“ (40) „Bloß weil Hitler fürs Gesunde war.“ (35) Da sollten also uralte Sehnsüchte der Menschheit (proletarische?) mit faschistischen Parolen zusammenfallen? Das darf nicht sein. So reist denn die Autorin weiter durch deutsche Lande, und „der Schaffner regt sich auf, daß ich laut Scheiße sage, weil mein Sauerkraut in die Tasche ausgelaufen ist.“ (273 f.)

Man möchte ihr Gesundheit, Glück und langes Leben wünschen.


Reih' dich ein in die Arbeitereinheitsfront!

Freilich braucht man die Welt nicht so aufdringlich etikettieren, um in ihr die richtige Perspektive zu finden: Es reicht hin, einen Roman darauf anzulegen, daß derartige Urteile in der Handlung selbst gefällt werden. Das beste Beispiel hierfür ist Uwe Timms Roman „Heißer Sommer“. Hier wird der Entwicklungsgang eines Studenten durch die Studenten-Bewegung beschrieben. Am Ende ist es dann so weit, sein Eintritt in die DKP steht bevor: „Er zog den Zettel mit der Adresse heraus, die Roland ihm gegeben hatte. Du stehst doch auf unserer Seite. Abends würde er in München sein. Er freute sich.“ (311) Die Stationen, die er bis dahin durchläuft, illustrieren die Notwendigkeit, mit der dieser letzte Schritt in die Partei getan wird. Dabei kommt es freilich darauf an, daß sie sich einigermaßen plausibel auseinander ergeben. Prinzipiell besteht dasselbe Problem, das schon Karin Struck hatte: die angeführten Erfahrungen (persönliche Frusts, die Erlebnisse in der politischen Szenerie, die Suche nach dem revolutionären Subjekt, Betriebsarbeit etc.) müssen mit einer politischen Einschätzung zusammengebracht werden. Nur tut sich Timm da leichter. Er reflektiert ja nicht über die Erfahrungen seines Studenten, er läßt ihn sie einfach machen. An mehreren Stellen des Romans zum Beispiel werden Gammler, demonstrierende und agitierende Studenten von der arbeitenden Bevölkerung beschimpft. „Ihr denkt wohl, wir sind blöd, ihr gammelt und wir schuften für euch.“ (23) Während dagegen am Anfang noch gesagt wird: „Das sind doch die Typen,die alle Langhaarigen gleich vergasen wollen, ... ein typischer Altnazi.“ (24 f.)

Was ist geschehen? Dem Studenten ist über die Arbeiter inzwischen einiges klar geworden: „Auf die kommt es doch an.“ (192) Und: „Mit den Arbeitern für die Arbeiter.“ (302) Da muß natürlich dem erbosten Werktätigen dadurch Genüge getan werden, daß ihm seine „Sauwut im Bauch“ über die, die nicht arbeiten müssen, wie er, mit dem Satz abgenommen wird, „dem sind die Nerven durchgegangen.“ (25) Im Lichte dieser freundlichen Würdigung zuvor noch für faschistoid gehaltener Reaktionen des Arbeiters glänzen dessen Interessen gleich viel heller: „Der würde doch auch lieber Däumchen drehen.“ (24) Und wie seine Hände dabei aussehen? „Die breiten abgearbeiteten Hände.“ (305) Man fühlt sich an Struck erinnert: Diese Sehnsüchte sind in sich gut.


Die Wurst der frühen Jahre

Es macht Timm gar nichts aus, bei seinem Gang durch die Studentenbewegung diese mit Urteilen zu konfrontieren, die sich ihm wie selbstverständlich aus den gesunden Ansichten solcher Leute ergeben, auf die eh alles ankommt. Ein schlagendes Beispiel liefert auch hier wieder das Ernährungsproblem. Für Timm muß es sich von selbst lösen.

„Du mußt es mal probieren … Vier Tage lang hatte Ulrich (der Parade-Student) kein Fleisch gegessen … Am vierten Tag wurde ihm im Betrieb plötzlich schwindelig. Er fühlte sich schlapp. Er konnte kaum noch die Kästen auf die Werkbank heben … Hast Du Schwierigkeiten, hatte Roland (Der Parade-DKPler) gefragt … Er wollte Ulrich Geld pumpen … Am Abend hatte Ulrich sein Brot wieder dick mit Mortadella belegt.“ (280 f.) Die harte Arbeit hat hier wie bei der Begründung, warum Nichtstuer im Unrecht sind, den Ausschlag gegeben. Man muß kein Vegetarier sein, um von der Beweisführung eines Wurst-Fetischisten abgeschreckt zu werden, der das Hohe Lied der Schwerarbeiter-Kost singt – als ob Knochenarbeit der Maßstab freier Bedürfnisse wäre.

Aber dem Studenten werden noch andere Weisheiten zugemutet. Von der Werkbank bekommt er seine berufliche Direktive: „Ich finde das wirklich wichtig, wenn du Lehrer wirst.“ (290) So einfach ist es. Vom eben noch berechtigten Frust über Studium und Beruf wird die Kurve genommen zu einem knackigen Engagement für Interessen, auf die erstaunlicherweise Studenten von sich aus nicht verfallen waren, so lange sie selbst noch darüber befanden. „Das sind noch die Arbeiterkinder ,… da kann man noch was machen. … Jeder an seinem Platz. Und organisiert.“ (300) Und die Freundin schreibt ihm, er müsse „sofort in die GEW eintreten.“ (300 f.)

Wieso gewerkschaftliche Orientierung aller Interessen, denen ein Zusammenhang mit denen der Arbeiter allererst unterstellt werden mußte, ausgerechnet die korrekte Auflösung der Widersprüche studentischer Erfahrung mit sich und den Arbeitern sein soll, bleibt das Geheimnis des Autors. Freilich ein offenes; denn schließlich wollte er von Anfang an ja nichts anderes als genau diese seine Auffassung belegen. Und niemand dürfte einen Anlaß gefunden haben, an solch redlicher Prinzipientreue zu zweifeln.


Peterchens Seilbahnfahrt

Genau dies jedoch könnte sich bei einer Spezies von Literatur, für die Peter Schneiders „Lenz“ steht, als Verdacht einstellen. Dem Autor dieses Buchs hat erst gar nicht die Ambition Karin Strucks gefallen, es noch zum Proust der Arbeiterklasse bringen zu wollen. Er ist da gleich viel frivoler, stellt sich ohne Skrupel aufs literarische Podest und nennt seine Erzählung nach der Büchners „Lenz“. Ein unpolitischer Fall also? Mitnichten, denn schon vom Verlag hört man, daß es sich hier um ein brisantes politisches Thema handelt, bei dem herauskomme, „daß Sensibilität und Radikalität durchaus vereinbar sind.“ Auch Schneider hat also eine Aussage zu machen, die mit Politik zu tun hat. Ihm geht es wie den beiden anderen Autoren darum, den politischen Aspekt zu dem in Beziehung zu setzen, was vom literarischen Stoff her sein Gegenstand ist. Während es bei Struck zunächst grundsätzlich um die Formulierung dieser Tätigkeit geht, um das Problem also, jedem Faktum ein Politikum zuzugesellen, und darüber hinaus um die jeweils diffuse Zurechnung ihres Erfahrungsmaterials zur Politik, ging es bei Timm in diesem letzten Punkt entschieden zielstrebiger zu. Er suchte nicht, er fand allerorten Belege dafür, was er im Endeffekt bewerkstelligen wollte. Bei Schneider endlich gibt es eine weitere spezielle Bewältigung dieser Aufgabe. Er ist sich des politischen Gehalts seiner literarischen Ausführungen gar nicht erst ungewiß. Damit liefert er das Komplement zur extremen Borniertheit Timms. „Da er (Lenz) die Bedürfnisse der Studenten und der Arbeiter, die er kennen lernte, jeden Tag offen vor sich sah, zweifelte er nicht an den Begriffen, mit denen er sie ausdrückte.“ (83) Die Plattheit solcher erkenntnis-theoretischen Dummheit ist erdrückend – das Sehen ersetzt das Denken. Wozu braucht es noch den politischen Beweis, zu dem Timm sieh noch bemüßigt fühlte. Was diesem aufrechten DKPler recht war, Unterwerfung der Realität unter seine Weltanschauung, das ist jenem gerade billig: Die subsumierte Realität kann sich ihm per se als politische darstellen. Sie drängt geradezu nach den Begriffen, in denen Schneider sie ausdrückt. Sein Buch ließe sich also in einem Satz zusammenfassen: Die Welt ist sichtbar politisch; oder: sie ist einfach umwerfend revolutionär!

Schneiders Augen haben gesehen, was sich politischen Menschen vielleicht noch als Zweifel darstellt: „Der Witz ist, daß die ausgebeutete Klasse, von der ihr träumt, sich ja wirklich zu befreien beginnt...“ (40)

Wer Ohren hat zu hören, der höre, wie diese Befreiung vor sich geht. „Am andern Morgen … fuhren sie mit der Seilbahn hinauf, fünfhundert Meter über die Stadt … Paolo und seine Freunde zeigten auf die Gebäude, die die Stadt beherrschten: die Kirchen, das Polizeipräsidium, das Rathaus, Kaufhäuser, zwei Fabriken am Rand der Stadt, und die niedrigen Wohnkasernen. Sie zeigten die Route, die die letzte Demonstration genommen hatte, … mit der die Bauern gegen die hohen Verdienstspannen durch den Zwischenhandel protestierten … Lenz gefiel das alles … Die reglose Landschaft unter ihm belebte sich mit den Bildern der Kämpfe, von denen er eben gehört hatte.“ (79 f.)

 

Ja der Chiantiwein

Man muß nicht unbedingt wissen, daß Schneider in sogenannten spontaneistischen Betriebsgruppen arbeitete, bevor er zum Literaten avancierte – was er schreibt, ist spontaneistisch. Herrschaft ist ihm so unmittelbar greifbar wie der Widerstand gegen sie. Jede Kirche ein Bollwerk des Feindes, jede Demo ein Siegesfanal. Jedes Vorkommnis in einer Arbeiterfamilie schließlich eine Offenbarung. Um bei dem schon strapazierten Beispiel zu bleiben, der Essensfrage: Im „Lenz“ ist es per se ein emanzipativer Akt, denn die Arbeiter pflegen es mit Überlegung: „Die Mahlzeiten wurden nicht improvisiert, und wenn Lenz Roberto seine Frau beim Einkauf begleitete, bemerkte er, daß Anna zwar meistens möglichst billig einkaufte, aber manchmal nahm sie einen besonders teuren Wein oder ein besonders gutes Stück Fleisch.“ (86) Daß die Not des Geldmangels die Tugend solcher Aufmerksamkeit ist, kommt dem gerührten Literaten gar nicht erst in den Sinn. Er schlürft den Rotwein seiner Gastgeber wie den Nektar einer menschlicheren Welt ein. So wird auch verständlich, daß ihm von genanntem Roberto, einem kommunistischen Arbeiter, eine Charakterisierung proletarischen Zusammenhalts gefällt, die diesem zu allem anderen als zur Ehe gereichen dürfte: „Sie wissen, daß ich einer von ihnen bin. Auch wenn jetzt viele mit meinen Ansichten und mit manchem, was ich getan habe, nicht einverstanden sind, sie sagen sich, irgendetwas wird der sich schon dabei gedacht haben …“ (87)

Wie dem Reinen alles rein ist, so dem revolutionären Seher alles voll revolutionärer Zukunftsperspektiven. Darin unterscheidet er sich allerdings erheblich von einem echten Seher.

„Nicht allein mich zu ergötzen, bin ich hier so hoch gestellt: Welch ein greuliches Entsetzen droht mir aus der finstern Welt!“ …

 

Ansichten eines Clowns

Der Unterschied der Perspektive (um Linken verständlich zu bleiben) ist allzu offenkundig – und dabei sollte sich doch alles aus dem Sichtbaren selbst ergeben. Seine Abstinenz von politischer Urteilskraft hat Schneider der Welt wohl doch um keinen Deut näher gebracht. Was man ihm zunächst konzedieren mochte, seine literarische Sichtweise, schlägt nun gleich zweifach gegen ihn aus. Nicht nur, daß er politische Naivität zur Schau stellt – das taten die anderen vor ihm auf ihre Art nicht minder –, er unterliegt auch gleich noch einem ästhetischen Urteil, das er über sich heraufbeschworen hat. Sein Buch ist miserabel geschrieben, denn es reicht nicht einmal an die sichtbare Welt hin, die er beschreiben will. Struck und Timm mochte man diesen Vorwurf erst gar nicht machen, da sie von Anfang an blind an den Start gingen. Wer es jedoch wie Schneider als seinen Verdienst sich anrechnen lassen will, wie realistisch sein Blick ist, der stellt sich mit Sätzen folgender Art selbst das erbärmlichste Zeugnis aus:

„Was er sah, wollte er nicht so schnell in Begriffe auflösen, nicht gleich den Punkt erreichen, wo man nur noch das Wesen der Dinge, aber nicht mehr ihre Außenseite sah.“ (74)

Es läßt sich resümieren: Die linken Künstler haben nachgerade Systeme entwickelt, mit ihren eingebrachten Gesichtspunkten das zu erschlagen, wovon sie gerade schreiben. Was bei Struck als exzessives Vergleichen ihrer Erfahrungen mit ihrer Überzeugung erscheint, ist bei ihren Kollegen zur Konsequenz getrieben: Timm kommt darauf hinaus, seine DKP-Ideologie zu bebildern; Schneider unterdessen, seinen Bildern ideologische Suggestion zu verleihen. Ihm kann dies darum – nahe am Puls des Lebens wie er ist – dazu gereichen, seinen einzigartigen Trivialitäten („Die Autos fahren schneller als in Deutschland, aber sie bremsen auch schneller.“ 54) ein literarisches Mäntelchen umzuhängen. Außer der Tatsache, daß auch Büchners Lenz bei Wind und Wetter übers Gebirge ging, hat diese Gestalt mit der Schneiders nichts gemein. Was bei jenem zum Zusammenbruch führt, („Sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin …“) verkommt unter den Händen des Polit-Wandervogels Schneider zur frisch-fromm-fröhlich-freien Lebensart. „Was Lenz denn jetzt tun wolle? »Dableiben«, erwiderte Lenz.“ (90) Was wird er da noch alles anstellen? Auf die nächsten „Kursbücher“ darf man gespannt sein.

Aber es müßte ja so kommen: Man vergegenwärtige sich nochmals, welche Schwierigkeit sich aufgetan hatte: da fordert der linke Literat umstandslos mehr von seiner Literatur, als er –  so wie sie sich zunächst darstellte – von ihr und ihrer gelassenen Betrachtungsweise verlangen kann. War die Literatur – gerade noch ihrer Bestimmung durch die Linken nach – zunächst ganz darauf abgestellt, den Individuen unbeschadet ihrer praktischen Differenzen vertrauliche Einblicke in ihre Schwierigkeiten zu gewähren, geht es den ideologisch Engagierten dann darum, etwas grundsätzlich anderes aus ihr zu machen, indem sie in ihr den praktischen Differenzen selbst zum Ausdruck verhelfen wollen. Sie wollen die Realität nicht lassen, wie sie die Literatur nun einmal von sich aus voraussetzt. Sie sind auf ihre praktische Veränderung aus. Damit sitzen sie in der Tat auf dem falschen Dampfer. Sie sind gehalten, mit der Literatur eine Perspektive zu geben, was in der Realität zu geschehen hat. Damit negieren sie ihre eigene Literatur. Sie möchten in ihr auflösen, was außer ihr als realer gesellschaftlicher Widerspruch unterstellt ist.

Welche ekelhaften Konstrukte sich daraus ergeben, hat man beim „Lenz“ verfolgen können. Unterm Zwang zur Positivität der Darstellung verfällt sein Autor einer versimmelten Pfadfinder-Mentalität.

 

Örtlich betäubt?

Wir wollen nicht hoffen, daß diese Autoren bei der Abfassung ihrer Opera ernsthaft politische Absichten verfolgt haben. Denn der Versuch, den praktisch behaupteten Positionen derer, die zu bekämpfen man angetreten ist, nun gerade mit wirklichkeitsfernen Vorhaltungen – möglichst noch über die Verwerflichkeit solchen Beharrens zu begegnen, mutet reichlich grotesk an. Die Don-Quijoterie einer Politik, die der Literatur als ihres Mittels sich versichern will, tritt damit zutage. Selbst den Fall gesetzt, jene politischen Gegner seien literarisch zu Tränen gerührt über die Unseligkeit ihres eigenen praktischen Verhaltens – was folgt für sie daraus? Vielleicht werden sie bessere Menschen werden, wahrscheinlicher ist dagegen, daß sie – sie hatten ja praktische Gründe dafür – es nicht übers Herz bringen werden, so gut zu sein, wie man es von ihnen erwartet. Auch gut! Zumindest haben sie mal ein gutes Buch gelesen. Und so sind denn beide Seiten zufrieden: der Autor und sein Publikum.

Liberalität im bürgerlichen Lager und Zorn über dieses Bürgerliche ergänzen sich auf das Vortrefflichste. Der gute Bürger leiht trotz allem sein Ohr; jedem Leidensbericht kann er lauschen. Und der Zornige? Was braucht er mehr als einen Zuhörer, der bereitwillig zugibt, ihn ganz gut in seiner Lage zu verstehen. So hätten sie sich wirklich gefunden – der wütend engagierte Autor und das Publikum, das ihn liest, übers moralische Mitgefühl sind sie zusammengekommen und haben doch so schwerwiegende moralische Vorbehalte gegeneinander.

 

aus: MSZ 3 – Februar 1975

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