Entfremdung, Arbeitssucht und andere Krankheiten Mediziner brauchen eine zynische Einstellung zur Krankheit, um ihr nützliches Flickwerk auch bei denen zustandezubringen, die die berühmten „Lebensrisiken“ zu tragen haben, und Verdienst, Standesethos, Kassenwesen etc. sorgen dafür, daß ihre medizinische Hilfe dazu beiträgt, diejenigen, die die Knochen hinhalten müssen, nutzbringend, d.h. langsam vor die Hunde gehen zu lassen. Wer arbeitet, ist daher auch nie krank, er ist krankgeschrieben, und Gesundheit ist lobenswerte Arbeitsfähigkeit, die ohne Rücksicht auf Gesundheit zur Äußerung gezwungen werden kann, weswegen es Werksärzte und Arbeitsmedizin gibt.
Damit die Gesellschaft sich das nicht bieten zu lassen braucht, gibt es inzwischen die entsprechende Wissenschaft, die sich der begreiflichen Unfähigkeit herkömmlicher Medizin verdankt, diese Probleme auch noch zu bewältigen – die Sozial-, bzw. Arbeitspsychologie. Die ist auf die traditionelle Medizin gar nicht gut zu sprechen, macht sie für die mangelnde Arbeitsfreude verantwortlich, weil sie sich um die psychische Aufmöbelung der Leute nicht kümmert. Daher hält sie dem naturwissenschaftlichen Standpunkt der Mediziner den psychosomatischen entgegen und bereichert das handfeste Tun der Mediziner, die wenigstens die ramponierte Physis mehr oder weniger wieder auf Vordermann bringen, um ein paar Sauereien, welche die das Flickwerk begleitende aufmunternde Alltagspsychologie der Ärzte alter Schule zum alleinigen Zweck erheben, sie damit ihres gemütlichen Scheins berauben und die Medizin in eine Sozialwissenschaft verwandeln. Diese „moderne Medizin“ bekämpft statt Krankheiten, „Krankheitsdispositionen“ und doktert daran herum, den Leuten die rechte Einstellung zur Arbeit einzutrichtern, daß selbst der biedere Knochenschuster mit den Ohren schlackert, weil Brüche nicht mehr Brüche, sondern Ausdruck von Krankheitsveranlagung sein sollen. Wenn die medizinischen Handwerker mit ihren sozialwissenschaftlichen Kollegen zusammentreffen, dann ziehen erstere regelmäßig den Kürzeren, weil sie dem moralischen Angriff, es ginge um Höheres als um Knochenbrüche, nicht mehr entgegenzusetzen haben als die Versicherung, daß Knochen wiedereingerenkt werden müssen. Mit diesem bornierten Standpunkt können sie sich gegen ihr personifiziertes schlechtes Gewissen schon deshalb nicht durchsetzen, weil eben Knochenflicken heutzutage eine leichte Übung ist, heile Knochen aber keine Arbeitsfreude garantieren – und nicht zuletzt, weil sich die evangelische Kirche, die die rechte Einstellung des Christenmenschen zur rauhen Wirklichkeit als Glaubensinhalt predigt, sich prächtig mit der modernen wissenschaftlichen Moral versteht. Die evangelische Kirche war es auch wieder einmal, die jüngst durch eine Tagung in der Akademie Tutzing über „psychosomatische Erkrankungen in der Arbeitswelt“ dafür sorgte, daß der pseudomedizinische Kampf gegen die arbeitende Bevölkerung neue Perspektiven erhielt. Da wurde klargestellt, daß „für Patienten mit einem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür Nachtschicht äußerst schädlich sei ... Die Arbeitslosigkeit sei freilich für solche Leute noch schlimmer ... Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes leistet psychischen Störungen nicht nur Vorschub, sondern verhindert zunehmend auch die Behandlung“, was allerdings in Kauf genommen werden muß, da ein verfassungsmäßiges „Recht auf Arbeit“, die Arbeiter „verplant und programmiert“, statt ihre „kreativen Potenzen“ zu wecken. Da wurde darüber gejammert, daß die „psychische Eignungsprüfung“ so unsicher ist – die härtesten Seelen kippen später einfach um –, und eine Frau Dr. Kleinsorge gab ihrer großen Sorge Ausdruck, es werde zu oft übersehen, daß „die Klagen über die Arbeit ein Vorwand seien, um persönlichen und familiären Schwierigkeiten auszuweichen. Zum Problem werden bestimmte Situationen im Betrieb häufig nur, weil die Persönlichkeit eines Mitarbeiters ihnen nicht gewachsen sei.“ Weil sich das Leiden des Arbeitsviehs unter den weiteren Umständen des Proletendaseins und das Ideal der Persönlichkeit so herrlich dafür benutzen lassen, die Schwierigkeiten mit der Arbeit der mangelnden Einstellung zur Arbeit vorzuwerfen, wird auch die Lohnarbeit selbst verwandelt. Sie ist nicht länger ungesund, sondern „entfremdet“, und das heißt keineswegs, wie ein ökonomisierender Philosoph aus dem 19. Jahrhundert nahelegt, daß sie eben die höchste Form der Ausbeutung ist, sondern daß es ihr an „Sinn“ mangelt – „Obwohl die meisten Menschen in den westlichen Industriestaaten heute weniger arbeiten müssen und mehr verdienen als je zuvor, empfinden (!) sie ihre Arbeit immer häufiger als unerträglich“ – worauf die empfindsamen Arbeiter mit schädlicher „Verdrängung“ und oft mit „scheinbar sinnlosen Akten der Destruktion“ („Sabotage oder wilde Streiks“) reagieren. Der medizinische Flickschuster bekam unter die Nase gerieben, daß der gebeutelte Arbeitsmann, der krank ist, oder auch mal die Arbeit schwänzt, weil er schlicht nicht mehr kann, oder anderes zu erledigen hat, eigentlich auf Gewinn aus ist, selbst in Fällen von Krankheit: „Typisch ist die Situation des Kindes, dem zuwenig Zuwendung zuteil wird, dessen Bedürfnisse und Affekte nicht verstanden werden. Die erhoffte Zuwendung erhält es andererseits, wenn es krank wird: das Kind erntet damit seinen »Krankheitsgewinn«. Nicht anders verhält es sich in der Welt der Erwachsenen: Nur in der Krankenrolle kann sich der Mensch den Verpflichtungen und Belastungen des Erwachsenenlebens legitimerweise vorübergehend entledigen. Vom Arbeitgeber und der Krankenkasse wird das normalerweise immer toleriert ... Die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß wir uns ein sehr teures Verleugnungssysten leisten.“ Zu guter Letzt gaben die Theologen ihren höheren Senf dazu, erklärten Gesundheit zur Fähigkeit, alle Sauereien zu ertragen – „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen ... Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben“ – und agitierten mit dem moraltheologischen Sinn der Krankheit dafür, daß der Arbeiter mehr gibt, als er zu geben vermag: „... der kranke Mensch ist der exemplarische Mensch und das Symbol der Menschlichkeit. Weil an ihm deutlich wird, daß er angewiesen ist auf andere Menschen, auf Zuwendung und Zustimmung, auf mehr, als er sich selbst zu geben vermag.“
Diese modernen Verkünder der Worte ihrer beiden Herrn eignen sich daher auch zur Bekämpfung einer „der jüngsten von der Psychosomatik entdeckten“ (und für Deutschland ebenfalls auf dieser Tagung ans Licht der breiten Öffentlichkeit gebrachten) „Suchtgefahren des 20. Jahrhunderts“, der „Arbeitssucht“, die besonders in Angestelltenkreisen grassiert: „Beobachten Sie bei sich morgendliche Unsicherheit, wenn der Terminkalender zu leer ist? Arbeiten Sie hastig, heimlich oder auch am Abend? Neigen Sie dazu, sich einen Vorrat an Arbeit anzulegen? Dann ist es höchste Zeit, einen Arzt aufzusuchen“ – einen Psychologen natürlich! Weil man einmal dabei ist, die scheinbar sich widersprechenden Folgen der Ausbeutung – Arbeitsunwilligkeit und erzwungener Arbeitseifer – in eine krankhafte Einstellung zum Lebensinhalt Nr. 1 umzudichten, wird aus dem materiellen Grund der Scheiße ein Abgrenzungsproblem: „Offen bleibt allerdings die Frage, wie der ständig wachsende Berufsstreß gegenüber dem Krankheitsbild der medizinisch bestimmbaren Arbeitssucht abzugrenzen, in Einklang zu bringen und damit heilbar sein sollte.“ Die „Abgrenzung“ ist längst gefunden – wenn auch nicht medizinisch: der möglichst große Nutzen für Kapital und Staat klärt alles. Diese Abgrenzung stammt, ebenso wie die Erfindung der Arbeitssucht – wie konnte es anders sein – aus dem Land, das nicht nur den Imperialismus, sondern auch seine Diener, die Wissenschaft und die Religion, vorantreibt, und ist nachzulesen in der leichtverdaulichen Kost des Sprachrohrs von Ami-Wissenschaft, religiöser Staatsmoral und CIA, im „Reader's Digest“ („Das Beste“ daraus: 12/1976) „Der Arbeitssüchtige ist nicht zu verwechseln mit dem Arbeitsfreudigen. Für diesen ist Arbeit zugleich Vergnügen.“ „Viele Menschen nehmen ihre Arbeit ernst, aber auch ihr Vergnügen. Es gibt jedoch Leute, die nichts anderes tun als arbeiten, sei es aus unstillbarer Arbeitslust oder aus einem Zwang heraus. Die erste Gruppe, die Arbeitsfreudigen, stellen in unserer Gesellschaft die führenden Persönlichkeiten in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst. Diejenigen indes, die sich zwanghaft überarbeiten, die Arbeitssüchtigen, sind in Gefahr. Ihre Besessenheit kann die Karriere zerstören, krankmachen und sogar zu einem frühen Tod führen.“
Diese schöne Widerlegung der Managerkrankheit wird von den Volkspredigern einer gesunden Arbeitsmoral natürlich nicht bemerkt. Für sie dreht sich die ganze Welt der Konkurrenz so um, daß die Gesellschaft gut, ihre Opfer aber schlecht dastehen: Sie haben sich selbst zuzuschreiben, wenn sie in der Hierarchie nicht ganz hoch hinauskommen: „Meist stiegen die Arbeitssüchtigen aufgrund ihres Fleißes (den man schätzt) in ihrem Betrieb auf; doch der Mangel an Phantasie (den man nicht schätzt) verwehrt ihnen den Zugang zu Spitzenpositionen ... Weil es ihnen an Kreativität fehlt, tragen sie selten etwas Originelles zum Wohl der Menschheit bei“ (worin ja bekanntlich die Hauptbeschäftigung der Spitzenverdiener besteht). Außerdem machen sie nicht nur „ihrer Umgebung das Leben schwer“, sondern ihre zwanghaften Neigungen stören auch die notwendige Auffrischung der Arbeitskraft und die Kinderzeugung im Familienkreise: „Der A-Typ (überall gibt es das Laster in mindestens zwei Varianten) ist ausgesprochen ehrgeizig, braucht die Konkurrenz und ist nicht selten feindselig. Arbeitssüchtige vom Typ B neigen dazu, sich mit ihrer Firma zu identifizieren und zwar unter Aufgabe des eigenen Ichs ... Das Familienleben des Arbeitssüchtigen ist meist gestört. Obwohl er daheim keinen Finger rührt (da endet die Arbeitssucht), redet er eifrig in die häuslichen Pflichten seiner Frau hinein ... Der Urlaub mit einem solchen Menschen kann die Hölle sein ...“ Zwar ist die Gesellschaft daran nicht ganz unschuldig: „Manchmal wird man auch zum Arbeitssüchtigen gemacht. Es gibt Firmen, die von ihren Angestellten erwarten, daß sie früh kommen, keine Mittagspause machen, unbezahlte (!) Überstunden anhängen und am Wochenende übers Geschält nachdenken. w Arbeitssüchtige werden gewöhnlich von diesen Betrieben angezogen“ – Doch da jeder normale Mensch solchen Betrieben schlicht „aus dem Wege gehen“ kann „Es ist nicht einmal gesagt, daß der arbeitsbesessene Betrieb (kollektive Seuche!) erfolgreicher ist als die Konkurrenz. Wie den Arbeitssüchtigen selbst kann es solchen Firmen an produktiver Phantasie fehlen“, liegt die Schuld immer bei den Leuten (Typ A und Typ B). Für ihre verschiedenen „Motive“ – „Einige arbeiten mitunter zu lange oder zu hart, weil sie ihre Entlassung fürchten, weiterkommen wollen oder mit ihrer Leistung nicht zufrieden sind. Wieder andere um ihren seelischen Kummer zu vergessen.“ – gibt es ebensowenig eine Entschuldigung wie für die zeitweilig epidemische Ausbreitung der Seuche: „Von Zeit zu Zeit werden die meisten Menschen von Arbeitssucht befallen, zum Beispiel Lohnsteuerberater im März oder April oder Verkäufer während des Weihnachtsgeschäfts.“ Denn die Heilung von diesem Leiden, die harmonische Verbindung von Arbeitslust und Freizeitfreuden, ist leicht, wenn man nur will, was wiederum die beweisen, die es sich leisten können: „ ... wird es für sie besser sein, öfter mal einen Kurzurlaub einzulegen. Sie können sich aber auch auf einen längeren Urlaub vorbereiten, indem sie vorher schrittweise weniger arbeiten. Der Süchtige vom Typ A im Frühstadium sollte sein allgemeines Lebenstempo drosseln. Dr. Friedman, selbst ein gemäßigter A-Typ, fing nach einem Herzinfarkt damit an, sich bewußt salopp zu kleiden. Er verbringt heute seine Mittagspausen gelegentlich mit Beschäftigungen wie etwa dem Betrachten von Mosaikfenstern in einer Kathedrale.“ Doch, wie schon gesagt, die Kirche ist nicht nur wegen, ihrer bunten Fenster gut, die der dem Urlaub oder der Nachmittagsarbeit entgegenmußende Arbeitsmann betrachten kann – wenn er nicht wegen der v.a. in Krisenzeiten zwar wenig verbreiteten, aber verheerend wirkenden Krankheit Nr. 1, der Arbeitsunsucht, die salopp gekleideten Rücken seiner Vordermänner auf dem Arbeitsamt in aller Ruhe studieren muß. Die Kirche leistet neben ihrem tete-a-tete mit der Wissenschaft auch noch den praktischen moralischen Beitrag, den die abgrenzungsgeplagten Psychosomatiker hier, und der Urlaubs- und familienbegeisterte Aufruf des „Reader's Digest“ drüben nicht zustande bringen: „»Wir müssen zugestehen, daß zur Zeit religiös motivierte Gruppen noch die besten Erfolge gegen Suchtbelastungen erzielen«, bekannte der Neurologe Mentzel.“
Die katholische Kirche aber, mit der modernen Wissenschaft nicht auf bestem Fuße, weil diese ihr zuwenig direkte Obrigkeitsmoral verkündet, hat bei der Suche nach verhängnisvollen Neigungen die eigentliche Seuche des 20. Jahrhunderts entdeckt, die es auszurotten gilt, weil sie im Unterschied zur „Arbeitssucht“ nicht die Übersteigerung einer nützlichen Eigenschaft, – des erzwungenen Arbeitswillens – ist. Kaiser Franz Beckenbauer gab vor längerem die Vorlage („Das Schlimmste sind Krankheit und Kommunismus.“), der Papst verlängert sie jetzt um die Autorität seines Amtes: „Revolutionen sind zur Manie geworden ... Bedeutet sie (die Revolution) die Umkehrung der eigenen Ordnung, bedeutet sie die Abkehr von der eigenen Geschichte, die Öffnung für alle möglichen und unmöglichen Gesetzesschwierigkeiten zu dem Zweck, mit allen Mitteln eine neue erträumte Ordnung oder Unordnung zu schaffen, die sich von der alten unterscheidet? Es handelt sich um eine pathologische Sache, eine Zivilisationskrankheit, die unser Zeitalter belastet.“ So vergreist er ist, als Papst nicht nur von Gottes Gnaden weiß er, auch ohne unmittelbar im Namen des Hl. Geistes Dogmen zu verkünden, daß ihm der Herrgott nicht helfen wird, wenn dieser Suchtteufel sein Unwesen treibt. aus: MSZ 14 – Dezember 1976 |