Ein Nachruf auf Rudi Dutschke: Trauer um einen jugendlichen Helden
Mehr noch: der ihm zuteil gewordene Nachruhm, das schaurige Ritual der Grablegung zu Westberlin und das anschließende Trauerfeier-Teach-in an der FU bringen die Wahrheit über die Funktion Dutschkes für die westdeutsche Linke anschaulicher ans Licht als jeder Nachruf, so daß der unsrige auf Dutschke sich auf den Bericht darüber beschränken und mit dem bei solcher Gelegenheit üblichen Schlußwort beginnen kann: Rudi Dutschke hat sich um das Vaterland verdient gemacht. Drei Städte im In- und Ausland stritten sich um den Besitz seines Leichnams, und jede wußte gute Gründe anzuführen, schließlich „holten die sozialistischen Freunde mit Recht Dutschke an den Ort zurück, mit dem ihn sein politischer Kampf verbindet: er wird auf dem St.-Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem beerdigt.“ So Jürgen Habermas in der ,,Frankfurter Rundschau“, der im Verstorbenen längst „die moralische Substanz seiner Person“ entdeckt hatte, die „ihn niemals dazu verführte, sich, sei es auch in härtesten politischen Auseinandersetzungen, bloß instrumentell zu verhalten. Gerade dann konnte Dutschke auf eine bewunderungswürdige Weise zuhören.“ Wie kein anderer bot sich Habermas für die FR an, das gewandelte Dutschkebild der Öffentlichkeit letztmals vorstellig zu machen. Er, der 1967 nach der Erschießung Benno Ohnesorgs Dutschke fragte, „warum er eine Dreiviertelstunde darauf verwendet hat, eine voluntaristische Ideologie zu entwickeln, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, die aber unter heutigen Umständen – jedenfalls glaube ich, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen – linken Faschismus nennen muß.“ (Protestbewegung und Hochschulreform, Ffm. 1969, S. 148) kennt heute gute Gründe, Dutschke als den „wahrhaftigen Sozialisten“ zu würdigen, der nicht nur „die Kraft zum Visionären mit dem Sinn fürs Konkrete verband“, sondern auch deren „Verkörperung in einer integren, ausstrahlungskräftigen Person“ verband. Dem Verstorbenen, dem vor 12 Jahren erstmals der beliebte Ruf „Geh doch nach drüben!“ entgegenschallte, trauert heute bis hin zur CDU die bürgerliche Welt als herbem Verlust für ihr öffentliches Leben nach. In Westberlin widmet ihm die NEUE ein Bild von Glotz und Egon Bahr bei einer Podiumsdiskussion und einem leeren Stuhl mit Dutschkes Namensschild. Unterschrift: „Der Platz wird für immer leer bleiben.“ Daß es mittlerweile eine Leistung ist, sich die BRD-Öffentlichkeit ohne Dutschke vorzustellen, bestätigt diese selbst durch ihre Politiker und Journalisten. Jene beglückwünschen den Toten, daß er vor allen Dingen ein großer Mensch war (anders als so unbrauchbare Fälle wie Baader und Meinhof, wo ähnliche Sprüche sofort den Ruf wachriefen, sie gehörten auf den Schindanger). Mit diesem Kompliment halten sie sich selbst zugute, daß sie im Unterschied zu ihren Vorgängern in den 60ern, die sie in nicht wenigen Fällen selber waren, in Dutschke gerade als politischen Gegner die bedeutende Persönlichkeit erkennen können: „Seine Freunde und Gegner ... ehren Rudi Dutschke, eine der unbequemen, großen Persönlichkeiten der Berliner und deutschen Studentenbewegung.“ (Westberlins SPD-Senator Harry Ristock in einer Todesanzeige.) Ristock, der damals vor 12 Jahren ein Schild vor sich hertrug mit der Aufschrift „Ich kann kein SPDler mehr sein!“ und deshalb heute um so glaubwürdiger die SPD machen kann, legte den Kranz der Partei aufs Grab, die sich – nach den Worten ihres Sprechers – „in Ehrfurcht vor dem politischen Gegner verneigt.“ Auch das CDU-Mitglied des Westberliner Abgeordnetenhauses Lehmann-Brauns meinte da „Dutschke wollte das Gesicht des Sozialismus menschlicher machen.“
Und nicht nur dies: die Politiker feiern seinen Tod als ein edelmütiges Opfer zur Herstellung des Modells Deutschland, mit dem sich heute unser Staat brüsten kann – denn nichts ist süßer als eine Selbstkritik, die nichts anderes ist, als der zufriedene Vergleich der damaligen Zeit mit den köstlichen Zuständen, die man heute geschaffen hat: „Sein früher Tod ist letztlich ein schrecklicher Preis, den er an eine Gesellschaft hat zahlen müssen, deren Politiker nicht immer zu jener Zeit jene Reife und Toleranz an den Tag gelegt hatten, die ihrer Verantwortung gerecht geworden wäre.“ (Harry Ristock am Grabe) So kann man die damaligen offiziellen Hetzveranstaltungen auch nennen. Ristocks Parteigenosse Duensing, Polizeipräsident „jener Zeit“: „Eine Demonstration ist eine Wurst: in der Mitte hineinstechen und von beiden Seiten ausdrücken.“ Der schon genannte Herr Lehmann-Brauns kann den „sarkastischen Analysen“ (?) Dutschkes heute so manches abgewinnen, da mit ihnen der „inneren Leblosigkeit der BRD“ in den 60ern abgeholfen worden sei. Sein Tod ist also vor allem „ein Verlust für das politische Leben“. „Ein deutscher, mitunter geradezu schwärmerisch vaterländischer Sozialist“ (FR) kam in Dutschke zum Vorschein, „dem die nationale Frage als Schlüssel am Herzen lag“ und dies Anliegen wußte er mit einer Rednergabe zu verteidigen, die er im Nachkriegsdeutschland nur noch mit „Strauß und Wehner“ teilte, wie ihm freundlicherweise sein Freund Augstein bescheinigte, freilich nicht ohne zu betonen, was ihn von diesen Vollblutpolitikern auch wieder trennt: „.rein wie das Jesuskind und unkorrupt bis ins Mark“, weshalb auf ihn das dumme Sprüchlein „viel zu gut für diese Welt“ zutrifft: „Der Schuß, der ihn traf, traf ihn zur Zeit. Konkurs wie die andern mußte er nicht anmelden.“ (Augstein), womit das Attentat als glückliche Fügung der politischen Größe Dutschkes Nachdruck verleiht und außerdem klargestellt ist, daß an der BRD kein Weg vorbeiführt. Weil also sich die BRD einer durch irgendwelche Linken ungetrübten Zustimmung erfreut, ist politischer Mord heute kein Vorwurf mehr gegen unseren Staat, sondern dient zur moralischen Ausgestaltung der Größe Dutschkes. Angesichts der prominenten Toten, die der SPD in Carlo Schmid und Kaisen im Vorwahljahr ins Haus standen, was immer eine gute Gelegenheit ist, in Gestalt des Hingeschiedenen die eigenen Leistungen für Gesellschaft und Staat Revue passieren zu lassen, ist es ein Trost für die Linke, daß nun auch sie, die in diesem Jahr doch so viel vorhat, ihrem gerechten Anteil abbekommen hat. Und da unsere Linke wie nichts hinterher ist, auch ja keine bürgerliche Abgeschmacktheit auszulassen, nur statt mit der im bürgerlichen Lager üblichen Unverschämtheit hier mit dem pfäffischen Blick schräg nach oben in den Himmel der besseren Moral, wurde ernst gemacht mit Augsteins flapsigem Spruch von Dutschkes jesuskindhafter Reinheit: 1. auf dem Friedhof im himmlischen Ergötzen des Pastors Gollwitzer an Dutschkes Leben, vor allen Dingen aber Sterben. Denn wer kann ein besserer Christ sein, als einer, der am Gründonnerstag angeschossen wurde und am Heiligen Abend den Spätfolgen erlag, der garantiert keinen Vorteil aus seinen Absichten ziehen konnte, da er um ihretwillen umgekommen ist: „Für ihn gilt, was Che Guevara sagte: er war einer von denen, die die Haut hinhalten, um die Wahrheit zu beweisen, sein Mut kam aus einer Selbstlosigkeit, und diese aus seiner Liebe zum Menschen. Er war ein Nachfolger Christi – und Christus bittet uns: Lebt aus Gottes Wort“ usw. usf. Dies war der Höhepunkt und Abschluß der Predigt, in der Gollwitzer Dutschkes 39-jährige Lebensstrecke zum Anlaufnehmen benutzte, um entlang der Eigenschaften desselben sein theologisches Anliegen zu verhandeln. 2. fand am Nachmittage des Donnerstag in allen Hörsälen und Fluren des Henry-Ford-Baus und um denselben herum der politische Teil der Veranstaltung statt, und der Genius loci dieses im kalten Krieg von den Yankees gestifteten Bauwerks schlug gewaltig durch: Schon als Gymnasiast in der DDR hatte Dutschke seinen ersten Erfolg, da er sich an der Beschimpfung Westdeutschlands durch die FDJ ärgerte und beim Abitur eine flammende Rede für die Einheit Deutschlands auf humanistischer Basis hielt. Gerade weil er in der Umwälzung in der DDR die demokratische Substanz fühlen wollte, litt er umso mehr an ihrer autoritär-stalinistischen Form. Diese Glaubwürdigkeit, nämlich sich von nichts auf der Welt den Blick verstellen zu lassen außer von dem einen Ideal der Demokratie und der Einheit in ihrem Sinne, machte Dutschke wie keinen anderen geeignet zum Anführer der neuen Linken, die böse Zungen ignoranterweise mit Kommunismus gleichsetzen wollten, statt diesen Leuten zu glauben, die schon mit ihrem alten Namen Außerparlamentarische Opposition verrieten, wohin es sie 12 Jahre später einzig und allein drängte. Als das Haupt dieser Bewegung war er wie kein anderer berufen, im Sinne der Einheit als Mahner aufzutreten, welcher Aufgabe er sich mit Menschlichkeit & Güte entledigte. Immer war er bereit, Anfälle von Leuten, die ihre bestimmten Ziele nicht der demokratischen Einheit opfern wollten, als Ausdruck der Schwäche der Linken zu verstehen und zu bekämpfen. Dutschke selbst hatte – wie im Laufe des Gedenknachmittags berichtet wurde – die Tatsache, daß er nach dem Attentat die Sprache neu lernen mußte, zur Gelegenheit einer undogmatischen Selbstreinigung und Inzweifelziehung seiner gesamten Tätigkeit gemacht. Wie sehr er als Mensch hinter seinen politischen Zielen stand, wußte sein Freund und Psychologe, Ehleiter, schon daran zu verdeutlichen, daß er Worte wie Solidarität, Repression schnellstens wieder lernte, Ausdrücke wie „Schweinebraten“ oder „Erdbeeren“ dagegen mühsam zusammenbuchstabieren mußte. Konsequent war der Lesefehler der Dutschke bei der Neulektüre der 11. Feuerbachthese unterlief und der von der Trauergemeinde mit Andacht aufgenommen wurde: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sich zu ändern.“ Eine schöne Übersetzung des Vorhabens, die politische Ökonomie zu kritisieren, in das psychologische Dogma, daß es nur ein Problem auf der Welt gibt, nämlich das widerspenstige Subjekt. Und eine sehr zeitgemäß grüne Umdrehung einstiger erklärter Gegnerschaft gegen die bestehenden Verhältnisse in das Ideal einer kritisch reflektierten Anpassung an das ökologische Gleichgewicht der Welt, auf dessen Bewahrung es heute ja mehr denn je ankommt.
Daß Dutschke nicht ein Mann des haßerfüllten Dagegen war, sondern der Verantwortung, der Liebe und Güte, war überhaupt das wichtigste Resultat der politischen Nachmittags-Veranstaltung, die damit das Niveau des kirchlichen Teils erklomm. Für den Höhepunkt sorgte Erich Fried, der sehr wirkungsvoll wie fast alle Redner seine Suada mit dem Hinweis begann, daß er vor Trauer kaum reden könne. Dafür fielen ihm mindestens zwei Gedichte gleich nach Rudis Tod ein, auf deren Vorlesen er seinen Beitrag beschränken wollte. Jedoch tat diese Beschränkung dem Beitrag keinerlei Abbruch: Diesem Menschen ist das Salbadern offenbar so in Fleisch und Blut übergegangen, daß es keine Rolle spielt, ob er gerade in Prosa spricht oder in Zeilen. Was hatte er uns zu sagen? Abgesehen davon, daß er mindestens zwei- hundertmal die Worte Liebe, Güte, Freiheit bezogen auf Rudi mit zitternder Stimme in wechselnden Kombinationen hersagte, teilte er das Schmankerl mit, wie Dutschke einstmals bei einer Demonstration auf Bauarbeiter traf, die wütend ein auf einem Gerüst befestigtes Transparent zerreißen wollten. Während alle anderen sie zum Teufel wünschten, hatte Rudi nur die Sorge „Hoffentlich fallen die da nicht herunter!“ Als Mitkämpfer sie hindern wollten, sagte er nur: „Laßt sie, sie wissen es nicht besser.“ Siehe bei Lukas, Kap. 23, Vers 34. Dutschke war in seiner moralischen Reinheit ein Mann der Versöhnung, der sich selbst Vorwürfe machte, als sein Mörder sich in der Zelle erhängte. „Ein einziges Gespräch mit Ulrike Meinhof“ hätte sicher genügt, um den Terrorismus zu verhindern. Mit einem Wort, Dutschke hat dafür gesorgt, daß auch Erich Fried „die Linken wieder für Menschen halten kann“ – in der Tat ein Gewinn für die Linke. Zu einem würdigen Leben gehört ein ebensolcher Tod – und dieser Anforderung genügte der von Dutschke erst einmal nicht. Diesem Problem widmete sich Wolf Biermann, nach dem üblichen Spruch, er bekomme kaum etwas aus sich heraus, mit einem Lied, welches in der Tat zum Steinerweichen war: Die heroische Tragik besteht gerade darin, daß ihm der „Tod auf der Barrikade“, i. e. auf der Nestorstraße vor 12 Jahren nicht vergönnt war, sondern er noch solange unter uns weilte, nur „damit wir denken sollen, er starb im Bett (er starb im Bad!) und nicht auf der Barrikade“ – womit ein schöner Zusammenhang hergestellt wäre, der ihm im Nachhinein die Weihe eines Toten auf Urlaub verleiht, und dem Bedürfnis der Linken entgegenkommt, trotz der List, der sich der Tod in Rudis Fall bedient hat, ein Heldenopfer (»er ist unser Held!«) feiern zu dürfen, von einem, der um seiner Moral willen gestorben ist.
aus: MSZ 33 – Januar 1980 |