Deutsche Ideologie 1978 Warum hat der Kommunismus bei den westdeutschen Arbeitern keine Chance?
Bürgerliche Politiker und ihre wissenschaftlichen Flüstertüten befassen sich gern mit dieser Frage. Zuständig für den sozialen Frieden und die Abwehr des menschenverachtenden Systems ist ihnen jeder Anlaß willkommen, ihre Antwort loszuwerden, auch wenn keiner die Frage gestellt hat: Gut gehen tut es eben den Proleten bei uns, die Freiheit haben sie außerdem viel lieber als die Knechtschaft und die bitteren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus haben eine enorm positive Wirkung, weil sie das deutsche Volk mißtrauisch machen gegen das totalitäre Zeug aus dem Osten. Das gute Leben der Massen und deren goldene Freiheit sind im übrigen ein Geschenk der Männer, die ihrem Beruf als Politiker so verantwortungsvoll nachgehen, weswegen im demokratischen Kampf der Parteien um die Macht der Vorwurf eine bedeutende Rolle spielt, die anderen würden durch ihre politischen Fehlleistungen dem Kommunismus eine Chance nach der anderen verschaffen. Was die selbstzufriedenen Erklärungen von Leuten auszeichnet, die von Staats wegen mit der Führung des Klassenkampfs – praktisch rechtsstaatlich oder frei wissenschaftlich – betraut sind, ist die Gewißheit, daß die Gründe für einen Proleten einfach nicht (mehr) vorhanden sind, sich den Kommunisten anzuschließen. Zwar offenbaren die wenig feinen Umgangsformen mit linken Minderheiten, daß in demokratischen Politbüros sehr wohl die Vorstellung lebendig geblieben ist, die geschätzten Lohnabhängigen könnten doch wieder einmal Gründe ausmachen für gezielte Maßnahmen gegen die Macht und die Herrlichkeit des Privateigentums, doch läßt die Abwicklung der Tendenzwende in diesem, unserem Land keinen Zweifel daran, daß der staatlicherseits geführte Klassenkampf – zumindest, was die Linken anlangt – ein prophylaktisches Zuschlagen darstellt und keineswegs aus der Angst vor umstürzlerischen Neigungen der westdeutschen Werktätigen geboren ist. Die Lüge der Ideologen vom gestorbenen Klassenkampf verträgt sich auf alle Fälle recht gut mit ihrer praktischen Widerlegung, solange letztere nur einseitig erfolgt; solange also an der traurigen Wahrheit nicht zu rütteln ist, daß die Arbeiter den Lohnkampf nicht als das Mittel ihrer Durchsetzung einsetzen und Gegner bürgerlicher Politik werden.
Weniger gern, aber noch viel häufiger befassen sich Linke mit eben derselben Frage. Auch sie müssen sie gewissermaßen aus beruflichen Gründen beantworten, haben sie sich doch das Ziel gesetzt, die arbeitende Klasse zur Durchsetzung ihrer Anliegen – gewöhnlich unter der entschiedenen und entschlossenen Führung einer, nämlich ihrer Partei – zu bewegen. Was sie zur Erklärung ihrer Mißerfolge beibringen, macht nicht ihnen, dafür aber den bürgerlichen Ideologen alle Ehre: auch bei ihren Theorien über das so schmerzlich vermißte Klassenbewußtsein kommt das Verständnis für Arbeiter, die an Klassenkampf nicht denken, nicht zu kurz: Ihr Klassenbewußtsein mußte Schaden erleiden angesichts der materiellen und ideologischen Einflußnahme seitens der Bourgeoisie. Diese hat es sich nicht nehmen lassen, mit der bösen Absicht der Korruption Ökonomische Zugeständnisse aller Art zu inszenieren und die Arbeiterklasse zu spalten. So haben die Proleten den Klassenkampf aufgegeben, weil sich das Kapital im Zuge seines Nachkriegsaufschwungs etwas ganz Verwerfliches geleistet haben soll – es hat einerseits dem Lebensstandard der Massen so manche Steigerung gestattet und andererseits mit Ideologien wie der vom Wirtschaftswunder die Köpfe derselben Massen schwer verwirrt, was bei der Arbeiteraristokratie am leichtesten gelang. Auch hier sind – wie bei den Apologeten der freien Wirtschaft und ihrer sozialen Republik die Gründe für ein revolutionäres Gebaren Mangelware, obgleich sie für einen aufrechten Linken eigentlich schon gegeben sind und vor allem mit der nächsten Krise wieder der Erfahrung auch der Proleten zugänglich werden – die „subjektiven“ Interessen sind Gegenstand des Verständnisses und werden mit dem Verweis auf Schuldige entschuldigt, die „objektiven“ Interessen werden beschworen, weil sie zwar nicht wirklich, aber revolutionär sind. Diese Art und Weise, besagte Frage zu beantworten, hält das Ideal einer kämpfenden Arbeiterschaft hoch und weigert sich standhaft, die Realität so zu sehen, wie sie ist.
Während der Versuch der Lohnarbeiter, mit ihrer Abhängigkeit vom Kapital zurechtzukommen, von den bürgerlichen Ideologen als Beweis ihrer Zufriedenheit, und zwar ihrer begründeten, hergenommen wird (höchstens die politische Verwaltung ihrer Sorgen mit Geldbeutel, Gesundheit und Alter sowie Familie taucht als Anlaß zur Kritik – natürlich an der gegnerischen Partei – auf), entdecken Linke mit dem ihnen eigentümlichen Idealismus in jeder Form der Unzufriedenheit sogleich den Willen, sich gegen Kapital und Staat zur Wehr zu setzen. Weder die eifrige Beteiligung an Wahlen noch die Unterwerfung unter die Rationalisierung mit ihren Folgen für Arbeitsplatz und Lohntüte, wie sie die Gewerkschaft, „die Organisation der Arbeiterklasse“ praktiziert, macht die Freunde der Arbeiter daran irre, daß es mit der proletarischen Sache vorwärts geht. Aus der Betroffenheit, dem Resultat des Bemühens, mit der Lohnarbeit über die Runden zu kommen, entziffern sie Klassenbewußtsein. An die Stelle der Kritik der Lohnarbeit, die MARX in all ihren Verlaufsformen als Mittel des Kapitals erkannt hatte, tritt bei ihnen das Lob der Arbeit, und die Anstrengungen der Leute, die an der Lohnarbeit als ihrem Mittel festhalten, daher beständig zu spüren bekommen, daß sie es nicht ist, erscheint ihnen ebenso gerecht, wie sie die Konsequenzen in lauter soziale Ungerechtigkeiten umdichten.
Kurz, die richtige, materialistische Antwort auf die Frage lautet: die westdeutschen Arbeiter sind weder bestochen noch verführt, und schon gar nicht fehlt es ihnen an Gründen für revolutionäre Taten. Wenn sie den Ansinnen der Kommunisten gegenüber gleichgültig bis feindlich auftreten, so liegt das daran, daß sie auf ihre Arbeit setzen, um ihre Existenz zu bestreiten, also ein falsches Bewußtsein bezüglich ihrer eigenen Lage haben. Aus der Abhängigkeit vom Kapital, das sie zwingt, ihr Leben an der Arbeit zu orientieren, wird bei ihnen die positive Einstellung, der Wille, die Lohnarbeit so zu verrichten, als wäre sie das Mittel ihrer Reproduktion. Die Logik, der sie darin folgen, ist die des Zwangs, aus dem es das Beste zu machen gilt, indem man sich fügt. So steigern sie Jahr für Jahr ihre Leistung und gestatten dem Kapital seinen sparsamen Umgang mit Arbeitsplätzen; so opfern sie Gesundheit und Einkommen für die Sicherheit, weiter arbeiten zu dürfen; so sind sie nicht nur in Wahlen bereit, dem Staat ihre Unterstützung zu bekunden, denn auch er ist eine Bedingung ihrer Lohnarbeiterexistenz, weil er sie sozial verwaltet und sie dies am Lohnstreifen, im Umgang mit Versicherungszwangsbeiträgen und auch sonst merken läßt. Sie tun eben alles, um weiterhin die abhängige Variable der Akkumulation zu bleiben – und schimpfen auf die DDR, weil man das bei uns darf und die drüben sich ähnliches gefallen lassen – müssen?
aus: MSZ 25 – Oktober 1978 |