Zum 80. Geburtstag Bertolt Brechts:

Im Dickicht der Interessen

Kaum daß ein Toter 80 Jahre alt geworden wäre, wird in beiden deutschen Staaten seiner gedacht. Natürlich hat man es nicht mit der Pietät, Tote ruhen zu lassen, – weil sie sich vorzüglich für staatliche Propaganda einspannen lassen. Bei denen drüben ist gerade ein Brecht-Haus eröffnet worden, in dessen Schlafzimmer der Geist des Toten spukt:

„Auf dem Nachttisch das »Neue Deutschland« mit dem Datum des 14. August 1956, an dem Bertolt Brecht kurz vor Mitternacht im Alter von 56 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist.“ (ND, 10. 2. 78).

Und weil damit bewiesen ist, daß der Tote eigentlich nicht tot ist, wundert es den Genossen Erich Honecker auch nicht, wenn ihm die Tochter Brechts für dessen gelungene Wiederbelebung „schönsten Dank im Namen meines Vaters“ (ibid.) sagt. (Brecht hätte ihm das gleiche geschrieben wie seinerzeit für Wilhelm Pieck: „Wenn Erich Honecker nicht schon Erster Sekretär der SED wäre, müßte er es sogleich werden!“)

Die Staatspartei hat sich Brechts Arbeitszimmer renoviert, weil es

„mit den wie Familienphotos gerahmten von Marx und Engels, die ... zum Mobiliar gehören“, eine Atmosphäre des produktiven Wirkens“ schafft, woraufhin die Handwerker „aus dem Vergnügen im Umgang mit Brecht ... den Antrag stellen, als Kollektiv den Namen Bertolt Brecht tragen zu dürfen.“ (ibid.)

So fruchtbar sind die Künste drüben, daß die, die in ihre „unverwechselbare Atmosphäre“ geraten, immer nur an das Eine denken – so wie der Brigadier Peter Korn während der „geselligen Runde im Kellerrestaurant“ des Brecht-Hauses:

„Immer, so versprach er, werden die Berliner Bauarbeiter bestrebt sein, die von der Partei der Arbeiterklasse zum Wohle des werktätigen Volkes beschlossenen Maßnahmen zu realisieren. Die Bauarbeiter werden alle Kräfte einsetzen zur Erfüllung des Wohnungsbauprogramms, zur Erreichung der Wettbewerbsziele zum 30. Jahrestag der DDR.“ (ibid.)

Bei uns sind die Sitten nicht minder barbarisch: „Daß Brecht zur Zeit tot ist, mausetot“ gibt vielen Gelegenheit, die Gunst der Stunde zu nutzen und ihren antikommunistischen Dreck abzuladen: Brecht habe seine „vorgedachte Weltanschauung nur ins Drama übersetzt“, „nur Belege für bereits Gewußtes“ (Zeit) gesucht. „Das Leben ist komplizierter“ (Allgäuer Zeitg. 9.2. 78) weiß uns der Direktor der Wiener Burg zu berichten, und sein Landsmann Handke rundet feinsinnig ab: „Ich konnte ihn nie leiden“ (Spiegel, a.a.O.)

Zu solch billigen Gefühlen lassen sich unsere Intellektuellen freilich nicht unkontrolliert hinreißen; sie beweisen demokratische Souveränität beim nekrophilen Zerfleddern Brechts:

„In 3 Jahren ist der 25. Todestag: mag sein, daß Jüngere dann schon auf Brecht mit anderen Augen sehen und ihn neu für uns entdecken.“

Und grundsätzlich weiß man auch schon, wie das zu gehen hat:

„Es ist an der Zeit, Brecht ebenfalls zu historisieren“ (Spiegel, a.a.O.).

Seine Stücke seien zu ihrer Zeit gerade wegen ihrer dogmatischen Einseitigkeit gut gewesen, im demokratischen Staat zu erproben,

„was eine konformistisch-antikommunistische Gesellschaft zu tolerieren bereit sei.“ (Spiegel, a.a.O.)

Mittels solcher Staatslogik hat freilich auch das Aufführungsverbot von Brecht-Stücken durch die Adenauer-Regierung sein Gutes gehabt, provozierte diese allzu engstirnige Maßnahme doch Stürme demokratischer Entrüstung, die dem Staat signalisierten, daß seine Intelligenz genügend Verantwortungsgefühl besitze, mit kommunistischen Autoren wie Brecht auch ohne schlagkräftige Unterstützung des Staates fertig zu werden.


Brecht von der Mitte her

Das gegenwärtige wie jedes weitere Jubiläumsdatum Brechts ist somit eines des demokratischen Toleranzdenkens im allgemeinen und seiner Frechheiten beim kritischen Zurechtklopfen der Schriften Brechts im besonderen.
Die hanseatische Kulturschickeria steuert ihren Nagel bei:

„Wir versuchen, Brecht nicht vom Ende, sondern von der Mitte her zu verstehen. Die Mitte: Das ist die Krise und Wende um 1930: Nicht vom Klassiker, sondern vom reichsten Problematiker können wir heute lernen.“ (Allg. Zeitg., a.a.O.)

Der plumpen Beschlagnahme Brechts durch den Osten ist mit der ihr gebührenden Plattheit begegnet. Brecht, der als Augsburger eh uns gehört, wie schon seine vom Fernsehen recherchierten Jugendsünden beweisen, die noch den „Bidi in Peking“ verfolgten, hat zwar

„in manchen Stücken, wie der Dramatisierung von Gorkis »Mutter« oder der »Maßnahme« unmittelbar die Partei verherrlicht (Pfui!)“,

doch darf man diese dogmatischen Verirrungen eines von marxistischen Studien gedrückten Künstlergemüts nicht auf die Waagschale legen. Brecht

„wollte (!) zu Zeiten (!), mindestens (!) den theoretischen(!) Schriften nach, vorab (!) zu einer Haltung (Habt acht!) erziehen, der distanzierten, denkenden, experimentierenden (Rührt euch!).“ (Adorno, Noten zur Literatur III,117)

Die elementaren Tugenden eines kritischen Intellektuellen sind glücklich versammelt: Er denkt, doch soll damit natürlich nichts festgestellt werden, was sich nicht noch an etwaigen Sachzwängen relativieren ließe. Darum muß das Denken auch zwanglos vonstatten gehen; da darf sich kein Gedanke der Willkür des Denkenden entziehen. Es hat eben in voller Freiheit selbstkritisch zuzugehen, was zugleich den demokratischen Staat, den solch ein Denken als freiheitlichen auszeichnet, als praktische Notwendigkeit herausstellt.

Ein so für die Staatsfeiern in Ost und West aufgerüsteter Brecht nimmt sich nun allerdings reichlich blödsinnig aus, hatte er doch schließlich gegen beide deutschen Staaten etwas einzuwenden: den kapitalistischen wollte er vom revolutionären Proletariat umgestürzt sehen, den anderen, den er nur insofern nötig fand, „solang die Produktion ihn braucht“, konnte er nicht gut finden, sofern er etwas anderes täte, als „seine Funktion, ... die Produktion zu ermöglichen,“ (Brecht, Gesammelte Schriften 20, 120), zu erfüllen.

Aus der hier formulierten Staatskritik heraus war ihm prinzipiell wohl klar, aber nicht geheuer, daß er

„wohl möglich (sein) ganzes Leben zubringen (müsse) in politischer Betätigung und es sogar dabei verliere.“ (G.S. 20, 67).


Das Interesse in der Kunst

Politisch ist ihm sein Leben lang auch nicht viel Gescheites eingefallen. Seine Haupttätigkeit ging auf eine Kritik der Theaterkunst, die ihm nicht gelingen konnte, weil er als Künstler an ihr werkelte, der sein politisches Gewissen beruhigen will.

Seine diversen theatertheoretischen Schriften belegen, daß ihn an der bürgerlichen Kunst, die er vorfindet, die impliziten gesellschaftlichen Interessen stören:

„Ihr ganzer Apparat diente dem Geschäft, die Menschen mit dem Schicksal abzufinden.“ (G.S. 16, 647)

Andererseits steht er zu Interessen in der Kunst positiv:

„Diese Interessen, die nötig sind, um zu erkennen, geben aber den Vorgängen ihre bestimmte Deutung.“ (G.S. 20, 145)

Damit ist er bei seinem Thema: Kunst als Trägerin politisch ausgewiesener Interessen. Brecht verhilft der Kunst zu

„einem neuen Geschäft, nämlich der Zerstörung der Vorurteile der Menschen über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen.“ (G.S. 16, 646 f.)

Diese Veranstaltung „vom sozialistischen Standpunkt aus“ (G.S. 16, 935) betreibt Brecht natürlich nach wie vor an der Kunst, zu der er sich lediglich politisch ins Verhältnis setzt.

So ist denn Brecht bekannt für seine Meisterschaft, mit gelassener Dialektik die Sache der Kunst bei der Politik sowie umgekehrt, deren Sache bei der Kunst, vorzutragen. Daß Kunst mit Lust, Genuß zu tun hat, ist ihm durchaus noch geläufig – folglich muß das Aufdecken der „dialektischen Bewegungsgesetze des sozialen Betriebes“ in der Kunst „Vergnügen verschaffen“ (ibid.). Andererseits treibt ihn sein dialektischer Scharfsinn zu der Bemerkung, nur kulinarisch dürfe es dabei nicht zugehen, die „Hauptquelle der Unterhaltung“ sei die „Produktivität“ (G.S. 16, 672) der materialistischen Methode, die zeige, daß

„viel im Menschen (ist). Da kann viel aus ihm gemacht werden. Nicht nur, wie er ist, darf er betrachtet werden, sondern auch, wie er sein könnte.“ (G. S. 16,682)

So soll es denn nach allem auf der Bühne (die Brecht nicht zufällig Laboratorium nennt) weder lustvoll noch geistvoll zugehen: das Spiel mit menschlichen Möglichkeiten ist intelligenter Schwachsinn und wie langweilig so etwas ist, zeigen nicht zuletzt Brechts Musterstücke, in denen z.B. seit bald dreißig Jahren Mutter Courage sich vor ihren Planwagen spannt und über den Krieg nichts dazulernt.


Offen für alle Interessen

Brechts Kritik der Theaterkunst hat das bürgerliche Theater umgekrempelt, es modernisiert. Sein Theater ist kritisch: es weiß seine moralischen und künstlerischen Mittel vor seinem Publikum zu demonstrieren. Dank dieser Reform steht es nun allen Interessenten offen:

– Dem Staat: Er nutzt die Theaterkunst nicht nur an den spärlichen Gedenktagen die ihr großer Mentor beisteuert;

– Den Künstlern: Sie spielen für das jeweilige gesellschaftliche System, prinzipiell dankbar, daß sie dürfen;

– Dem Publikum: Wer dort im Theater ein paar Stunden totschlagen will (schöne sind’s nicht), wird von den Theaterproduzenten, wie Brecht sie bezeichnenderweise nennt, beinahe so bedient werden, wie in einem Kino, nur daß man sich oft noch einen Schlips umbinden muß, keine Actionscenen vorkommen, und das Programm selten wechselt.

Brecht selber ging im übrigen nicht leer dafür aus, daß er mit seiner Theaterästhetik der Pflicht als künstlerischer Staatskritiker nachkam – er durfte sich zum Lohn für treue Dienste an der Partei aufs intellektuelle Altenteil nach Buckow zurückziehen, von wo aus er sich und seinem Staat elegische Weisheiten ersann:

„Ihr Staatenlenker, wenn ihr Pläne schmiedet
Stellt euch nicht furchtsam an:
Der darf nicht Kampf scheu’n, der befriedet! Doch immer prüfet: Was und Wann?
Auf die Straße geht und seht:
Wie der Wind weht.“
(G.S. 10,1027)

 

aus: MSZ 22 – April 1978

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