Hans Ulrich Kempski berichtet:
„den meisten Platz ein Schreibtisch beansprucht, dessen antike Mahagoniplatte mit Akten überhäuft ist. Eng daneben auf hochbeinigen Chromgestellen vier Sessel, die wie schicke Barhocker aussehen, sowie zwei flache Sofas mit nougatfarbenen Lederbezügen ... Sieht man von den Büchern ab. die ein bis zur Decke reichendes weißes Regal füllen, so ist dies ein Raum ohne Farben.“
Indem der Journalist sein geübtes Auge umherschweifen läßt, stellt er fest, daß sich in seinem Innersten eine gewisse Wandlung gegenüber dem KP-Chef vollzogen hat. Dieser läßt sich nicht mehr in den einfachen, aber leuchtenden Farben des alltäglichen Psycho-Journalismus darstellen, sondern schon das widersprüchliche Interview macht es klar: Differenzierung tut not, die feinabgestimmten Grautöne sind zu beachten: „Er gilt als ungemein pressescheu, was einem verschachtelten Charakter zugeschrieben wird.“ Worin besteht die Verschachteltheit? In „Mangel an Emphase und Effekthascherei, systematischem Fleiß, Nachdenklichkeit, geistiger Kraft“ übrigens äußerst untypische Eigenschaften für den italienischen Charakter, erst recht für die italienischen Politiker. Man merkt also, daß die differenzierte Verwirrung des Chefreporters umzuschlagen droht – dieser Mann kann etwas gegen die „schmerzlichste Krise Italiens“ unternehmen – , wenngleich kleinere Schatten in Gestalt einer „Whisky-Flasche“ der Marke „Black and White“ (!!!), die halb (!) leer ist, auf das Charakterbild fallen. Die aufgeschlossene Skepsis hat ihren Grund natürlich nicht darin, daß der Reporter auf dem nougatfarbenen Ledersofa sitzen darf (oder vielleicht auf dem hochbeinigen Chromgestell?). sondern Berlinguer muß schon etwas dazugetan haben: zunächst bot er höflich von seinem Whisky an, dann plauderte er bereitwillig aus seinem Privatleben: „Tatsache ist, daß er aus einer bürgerlichen Landbesitzer- und Advokatenfamilie stammt, deren Vorfahren, wie Berlinguer mir erzählt (!), wahrscheinlich Deutsche (!) waren, die über Spanien nach Sardinien kamen. Tatsache ist ferner, daß Berlinguers Frau sowie seine vier Kinder fünf bis 17 Jahre alt praktizierende Katholiken sind, jedoch nicht von ihm in die Kirche gefahren werden: Berlinguer hat keinen Führerschein. Er zieht es vor. sich in einem Dienstwagen, einem cremeweißen Fiat 128, durchs römische Verkehrsgewühl chauffieren zu lassen.“
Wenn Enrico Berlinguer den Journalisten mit aller Gewalt persönlich für sich einnehmen will, dann deswegen, weil er mit ihm einig ist, andererseits aber das Mißtrauen des bürgerlichen Beobachters bestehen bleibt, was Berlinguer zu immer neuen Anstrengungen treibt. Eindringlichst versichert er seinem Gesprächspartner, daß die PCI absolut nicht vorhat, die Machtverhältnisse Italiens zu ändern: „Was aber, wenn bei der Wahl am 20. Juni die Kommunisten im Verein mit anderen Linksparteien fünfzig Prozent bekämen und somit einen Führungsanspruch? »Dann werden wir« sagt Berlinguer, »den Christlichen Demokraten trotzdem deren Beteiligung an einer Notstandsregierung anbieten«. Und wenn die Christdemokraten eben dies weiterhin strikt ablehnen? »Dann werden wir das gleiche abermals anbieten, und wieder und wieder und wieder.« Aber wenn trotzdem keine Notstandsregierung möglich ist? Berlinguer: »Dann werden wir die Christlichen Demokraten zu überreden (!) versuchen (!), zu der gleichen (!) konstruktiven (!) Opposition bereit zu sein, wie wir sie ihnen gegenüber ausgeübt haben.«“ Zugleich macht Berlinguer aber auch deutlich, daß die Frage absolut hypothetisch ist – „Denn erstmals befragt, was passieren werde, falls Italiens Linke die absolute Mehrheit gewinnt, … hat Enrico Berlinguer gesagt: »Das ist absolut unmöglich«“, die PCI also überhaupt nicht auf die Erringung der Staatsmacht aus ist, sondern auf verantwortliche Teilhabe daran – was dem Journalisten einerseits sehr gefällt, erwartet er doch von Kommunisten anderes, andererseits aber auch sehr unwahrscheinlich vorkommen muß, erwartet er doch von bürgerlichen Parteien anderes. Aus dem Rätseln des Beobachters, der zum einen all seine ihm lieben Vorstellungen über richtige Politik bestätigt sieht, andererseits aber eine vor lauter Bemühen um Bürgerlichkeit trotz allem unbürgerlich agierende kommunistische Partei vor sich hat, ist zu ersehen, daß eine bürgerlich gewordene revisionistische Partei nicht leicht zu begreifen ist und es schwer haben muß bei der Darstellung einer Staatstreue, die sie bis zu der Selbstverleugnung treibt, nach der Staatsmacht zu streben, um sie nicht auszuüben. Der verwirrt-skeptisch-begeisterte Chefreporter plaudert das Geheimnis nebenbei aus: „Im einen weiteren Verfall der Autoritätsstrukturen zu vermeiden, hat Berlinguer sogar darauf verzichtet, aus der mafiösen Degeneration des öffentlichen Lebens durch entsprechende Agitation Profit herauszuschlagen.“ Was aber tut eine revisionistische Partei, die für einen besseren Staat zugunsten der Werktätigen antritt und dazu die ungebrochene Macht des bürgerlichen Staats braucht? Auflösung in der nächsten MSZ. aus: MSZ 11 – Juni 1976 |