Wolfgang Abendroth packt aus:

Ein Leben in, aus, an, trotz, mit, wegen und von der Arbeiterbewegung


Die einmalige Gelegenheit, vor dem Grabe zu stehen, wollte sich der bekannte Emeritus Wolfgang Abendroth nicht entgehen lassen. In stundenlangen Tonband-Erinnerungen hat er dargelegt, daß ihn schon als Kind, Student, Soldat, Professor etc. immer nur das bewegte, was ihm nun erst recht das Alter lebenswert macht: die Arbeiterbewegung. Mit bewundernswerter Genauigkeit memoriert der rüstige Pensionär die Stationen seiner Vita und demonstriert dem Publikum schon damit, daß „ein Leben in der Arbeiterbewegung“ (so der Buchtitel) den gerade heute so gefragten Vorzug aufweist, sinnvoll zu sein. Mit Senilität ist der über 300 Seiten geführte Nachweis, dabeigewesen zu sein, nicht zu entschuldigen, verrät sich doch hier nur um so deutlicher Abendroths Interesse, durch seine Existenz die „Arbeiterbewegung“ zu glorifizieren. Die Memoiren des Wolfgang Abendroths versprechen darum, der vor lauter Glanz schon ganz blinden Geschichte der Arbeiterbewegung ein weiteres bewegendes Kapitel hinzuzufügen.

 

Schwere Geburt

Es war am 2. Mai 1906 in Elberfeld, als Wolfgang Abendroth unter schon nicht ganz normalen Umständen zur Welt kam. Seiner Mutter wird es schwergefallen sein, mit ihm nicht einfach einen Balg, sondern zugleich noch „die Wechselbeziehung zwischen individueller politischer Biographie und Zeitgeschichte ans Licht zu heben“. Aber sie war eine außergewöhnliche Frau, der „Zähigkeit im Kampf“ aus der besten „Tradition der Arbeiterbewegung, in der die Familie stand“, zugewachsen war:

„Großvater mütterlicherseits gehörte bereits vor dem Sozialistengesetz ... zur Sozialdemokratie. Er selbst stammt von einem Kleinbauernhof (je kleiner, desto besser) ... Er macht eine Drechslerlehre und kommt direkt (!) danach mit den ersten (!) Gehversuchen (?) der Arbeiterbewegung in Berührung. Auch in seiner Wanderzeit bleibt er ihr treu, ebenso wie sein Bruder, mein Großonkel. Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts läßt sich mein Großvater als selbständiger (!?) Handwerksmeister in Elberfeld nieder ... Auch seine Frau wird aktive Sozialdemokratin. Meine Mutter wächst, beeinflußt durch diese Eltern, in die Arbeiterbewegung hinein. Sie wird Lehrerin.“ (!)

Die leicht mißliche Komplexität stolz ausgebreiteter Klassenherkunft reduziert der Professor Abendroth mit gekonnter Abstraktion auf dm „kleinen Verhältnisse in denen die Last des Daseins zu charakterstarkem „Durchhaltevermögen“ spornt. Als materialistisch geschulter Mann ist Abendroth jedenfalls schnell bei der Hand mit denkwürdigen Notsituationen, in denen er und seine Familie das Positive einer stabilen Gesinnung vorführen.


Muttis Liebeskampf

Zu den härtesten „Kampferfahrungen“ seiner Mutter zählt ihr Wolfgang die Bekanntschaft mit einem Volkschullehrer, dessen Elternhaus „noch nicht einmal liberal eingestellt“ war und „der zum Teil erst mit ihrer Hilfe Französisch und Englisch lernt“. Daß das „Leben in der Arbeiterbewegung“ so einfach nicht ist, sondern ganz schöne Anstrengungen erfordert, beweist Mammis selbstlose Opferhaltung, denn

„auf diese Weise politisiert meine Mutter den Mann, den sie liebt.“

Das sind markige Töne, die den kleinen Mann, der dachte, er könne bei Mutti wie bei der Arbeit eine ruhige Kugel schieben, aufrütteln sollten.

Geringfügige Probleme macht da nämlich auch die Großmutter, von deren Aktivität schon die Rede war (mütterlicherseits!): Wenn sie die geforderte Gesinnungsstärke nicht bringt und

„nicht kritisch wird, so muß man zur Erklärung allerdings sagen, daß sie schon sehr leidend war und am Ende des Kriegs gestorben ist“.

Wer auf dem Altar geschichtlicher Notwendigkeiten zu opfern ist, weiß Abendroth als dialektisch versierter Materialist natürlich genau.

Das hat er vom Opa, der den kleinen Wolfi schon früh mit auf kommunistische Veranstaltungen nahm, um ihm dort beizubringen, daß Leute ihres Schlages statt politisierender Schwätzer saubere Charaktere brauchen:

„Du darfst nicht von der Bewegung, sondern du mußt für die Bewegung leben. Es ist immer problematisch, wenn du in Spitzenpositionen aufsteigst, denn das kann deine Sichtweise verändern ... Das führt zwar zur Identifikation mit der Bewegung, nicht aber notwendig mit jeder politischen Wendung der Spitze. Dies ist eine eigenartige politische, aber (?) gleichzeitig auch (?) eine moralische Position.“

In der Tat! Die „eindringliche Weisung des Großvaters“ hat den Wolfgang davor bewahrt, seinen (für die Arbeiterbewegung ja charakteristischen) Aufstieg zum professoralen Papst im linken Nachkriegsmekka Marburg etwa als Widerspruch dazu zu begreifen, daß er „niemals den Wunsch hatte, selbst zur Spitze gehören zu wollen“. So braucht er sich selbst gegenüber auch nicht wie „gegenüber jeder Führung skeptisch“ zu sein – ist Wolfgang doch stets der anständige Junge von nebenan, der in der Schule lernt („ich bereitete mich tatsächlich auf den Geschichtsunterricht vor“) und in der Freizeit als „Literaturobmann“ irgendeiner (kommunistischen) Vereinsjugend fungiert.


Wolfgangs sauberer Aufstieg

Welchen Fährnissen des Lebens der gute Junge auch begegnet, dank des untadeligen Vorsatzes, unter Entbehrungen seinen Mann zu stehen, läßt sich bekanntlich das Gröbste meistern. Sei es die schwere Zeit nach 1945, als er, heroisch

„entschlossen, das zweite juristische Staatsexamen auf jeden Fall zu machen ... nach Berlin reiste ... und illegal über die Grenze ging“,

um drüben ganz legal zunächst Assessor, dann Professor zu werden,

oder sei es die noch schwerere ihm drüben drohende „Konfrontation mit dem sowjetischen Geheimdienst“, die ihn zu der selbstlosen Einsicht brachte, „über Westberlin zu unseren Schwiegereltern zu fliehen, um „nun in Westdeutschland weiterzukämpfen“,

immer bleibt Wolfgang den Kampfparolen treu, die ihm schon als Wölfchen in noch kleineren Verhältnissen zum überleben eingebleut worden sind. So gehen bei ihm Aufopferungsideologie und berufliche Karriere jene seltene, daher jedoch umso vorbildlichere dialektische Wechselbeziehung ein, die den Professor für die Arbeiterbewegung zum Musteraufsteiger macht.


Schöne Freundschaftsdienste

Als deren Freund hat sich Abendroth die Strapazen seines Propagandalebens angetan und den jetzigen Ruhestand verdient. Man erinnere sich nur, wie schwer auch ihm manches der Opfer fiel, mit dem Proleten bekanntermaßen ihren gesellschaftlichen Aufstieg befördern: Ganz für die anderen da, arbeitet Abendroth selbstverständlich „als Jurastudent in der Roten Hilfe“, übt leidenschaftlich gern bei jungen Sozialdemokraten „Kampflieder der Arbeiterbewegung“ (die sie „miteinander, nicht gegeneinander“ absingen), und noch unterm Faschismus in der Uniform der Strafdivision 999 ist er ein dufter Kumpel, der

„im besetzten Land ... auf den griechischen Inseln ... zunächst in die Kneipen gegangen ist“ und trotz aller Sprachprobleme „sehr schnell Kontakt findet“.

Von solch ermutigenden Beispielen mitmenschlicher Fürsorge soll sich der einfache Arbeitsmann gefälligst anstecken lassen. Dieser gelungenen agitatorischen Wendung gegen dessen profanes Malochen dient schließlich des Professors eigenes Samariterleben. Das in ihm der Arbeiterbewegung vorgestellte edle Menschenbild ist freilich so erbaulich auch wieder nicht: Scheinheilig preist sich in der Person Wolfgang Abendroths eine Lebenshaltung an, die den arbeitenden Menschen die Opfer ihrer tagtäglich erbrachten Plackerei als im höheren Sinne zu erbringenden Beweis ihrer Barmherzigkeit abverlangt.

Das Dreckige solch menschlich tönender Propaganda dürfte im übrigen auf einen Proleten kaum abfärben. Wenn er etwas davon mitbekommt, dann allenfalls die von Abendroth sicher nicht intendierte Erkenntnis, daß man mit moralischer Scheiße im Kopf verhältnismäßig leicht Professor, aber nur schwer etwas anderes werden kann als der Arbeiter, der man nun einmal ist. Ihm drängt sich als Alternative sicher eher auf, die solidarischen Gesangsübungen des Professors ohne agitatorische Winkelzüge gleich uniformiert abzuhalten – was wiederum diejenigen entsetzen dürfte, die seit 30 Jahren ihren Scharfsinn daran gesetzt haben, um den Lehrstuhl ihres Wolfgang Abendroth herum dessen menschheitsbeglückenden Schmutz breitzutreten. Die werden natürlich auch über unseren „Schmutz“ empört sein, weil wir einem verdienten Opfer des Faschismus weder zugutehalten, daß es darauf stolz ist, noch mit ihm glauben, daß es etwas über die Richtigkeit einer Politik beweise, wenn man ihretwegen verfolgt worden ist, wohl aber der Auffassung sind, daß die beständige Demonstration von falscher Politik und Opfermut als Person gemein ist.

 

aus: MSZ 23 – Mai 1978

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