30 Jahre Bundesrepublik Deutschland

In bester Verfassung


„Wir können stolz sein“ – so und nicht anders lautet die Devise, unter der die Republik ihren 30. Geburtstag feiert. Stolz, nicht nur ob des fortgeschrittenen Alters – immerhin haben es die beiden unmittelbaren Vorgänger längst nicht so weit gebracht. Die Weimarer Republik ist nur 14, das 3. Reich nur 12 Jahre alt geworden, und des Kaisers Wilhelm Imperium wird auch bald überholt sein –, sondern vor allem ob der unglaublichen Vitalität des Jubilars. Seit dem Tag nämlich, an dem „wir“ mit der Verabschiedung eines GRUNDGESETZES aus der Taufe gehoben wurden,

„haben wir tatsächlich Bestleistungen am laufenden Band produziert. Wir sind Westeuropas stärkste und stabilste Wirtschaftsmacht, wir haben Westeuropas stärkste und modernste Armee, und wir haben den freiheitlichsten deutschen Staat in der deutschen Geschichte. Wo immer es vorn zu sein gilt, da mischen wir auf den ersten Plätzen mit.“ (STERN)

Wo die zu feiernden Freuden also für die Mehrheit der Mitglieder nur in der Eigenschaft von „uns allen“ genießbar sind, werden die Jahrestage des „Wir-Seins“ (zumal so runde) willkommene Anlässe, den Stolz auf „uns“ zur feierlichen Einschwörung der Nation auszugestalten, ihre Bestleistungen – tapfer wie 45 – fortzusetzen. Neben der drastischen Vergegenwärtigung auch unseres „Auferstanden aus Ruinen“ mithilfe von rechtzeitig aus den Archiven geholtem Filmmaterial, auf dem schwarz in grau die toten, fast toten oder ziemlich verelendeten Indizien für die Untauglichkeit des in die Brüche gegangenen ehemaligen Staatswesens und der nur allzu berechtigte Heroismus der Aufräum- und Aufbauarbeiten für das saubere neue abgelichtet sind, neben derlei Ertüchtigung des Geschichtsbewußtseins hat auch die Erinnerung an die nunmehr 30jährige Geltung eines Gesetzeswerkes ihren volksbildnerischen Platz. Dabei schadet es gar nichts, daß neben dessen amtlichen Hütern zumeist nur diejenigen sich genauer darin auskennen, die sich fragen lassen müssen, ob und mit wieviel Beinen sie auf ihm stehen. Bedeutet doch die damit getroffene Feststellung, daß diese Paragraphen den heutzutage von Maas und Memel, Etsch und Belt umgrenzten Boden ausmachen, auf dem wir stehen (müssen), die sichere Gewißheit, daß das GG seit 30 Jahren mit Leben gefüllt wird. Weitaus die Mehrheit der 65 und mehr Väter, soweit sie nicht noch per Anwesenheit bei der Feierstunde im Zoologischen (?) Museum in Bonn ihre Übereinstimmung mit diesem Gelebtwerden dokumentiert haben, würden daher die Frage besonders inniger GG-Freunde, ob nicht dessen Wirklichkeit ihrem Anspruch gröblichst entfremdet worden sei, als albernes Mißverständnis belächeln. Ganz im Gegenteil, daß der von ihnen unter Anleitung der Siegermächte in noch nicht einmal einem Jahr erarbeitete Auftrag an Deutschland, sich wiederaufzurichten, so ausgezeichnet verstanden und ausgeführt worden ist, das hätte wohl keiner von ihnen zu träumen gewagt.

Angesichts der bei allen Mißverständnissen einenden Liebe zu diesem weitreichenden Staatsakt der ersten Stunde bleibt nun auch der marxistischen Studentenzeitung, die nicht umhin kann zuzugeben, eine deutsche zu sein, nichts anderes übrig, als ihren Beitrag zur Feier abzuliefern: dem deutschen Volk, das sich 1949 genötigt sah, „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sich einen „Willen“ zuzulegen, nämlich den, „seine staatliche Einheit zu wahren“ und „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“, ist in den 30 Jahren mit Hilfe seines grundgesetzlich geordneten Willens eine präsentable Ordnung gelungen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Volk!


Eigentum und Recht und Arbeit sind des Deutschen Vaterland

Ohne die Leistung der Herren verkleinern zu wollen, die sich schon in der inneren und äusseren Emigration, während die alte Ordnung noch ziemliche Unordnung verursachte, ihre Gedanken über das Aussehen der neuen gemacht hatten und nach Beendigung der faschistischen Un-Ordnung rechtzeitig und unbeschadet zur Stelle waren, um sich von den Repräsentanten anderer Ordnungen dazu ermächtigen zu lassen, dem Willen der ihnen demnächst zu Übergebenden eine gesetzliche Form zu verpassen – ein paar sachdienliche Hinweise hatte ihnen die Nachkriegsrealität schon gegeben. Eine Freiheit, durch Besatzungstruppen gegen den Osten abgesichert, gab es schon und auch ein Geld nebst dem durch die Währungsreform frisch installierten Markt.

Streng nach dem marxistischen Grundsatz, ohne Basis kein Überbau, hatten die Siegermächte nämlich erst einmal für die Grundbedingung einer manierlichen Abwicklung des ökonomischen Lebens gesorgt. Die durch die momentane Gesetzlosigkeit erzeugte Unsitte, alle Varianten von Reproduktion, vom Verbrechen über den Schwarzmarkt bis zum Sozialismus, auszuprobieren, war mit der Wiedereinrichtung eines gültigen und pro Kopf auf 40 DM beschränkten Tauschmittels schon zumindest verboten.

Im Gegensatz zu einer Bevölkerung, deren Interesse nicht viel weiter ging, als notdürftig ihren Hunger zu stillen und sich das Dach überm Kopf wieder zusammenzuflicken, zeichnete die Erfinder der neuen politischen Ordnung nunmehr der Weitblick aus, mitten in die Trümmerlandschaft ihren Artikel 14 zu plazieren:

„Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet ... Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Ungerührt haben sie die Reste von gesellschaftlichem Reichtum zu Eigentum gemacht und bestimmt, daß sie als Eigentum zu behandeln seien. Nicht nur, daß der Staat einen ökonomischen Auftrag hat, wußten diese Staatsmänner der ersten Stunde, sondern auch, daß der Staat, den sie vor Augen hatten, die Ökonomie aufs Eigentum gründen sollte. Denn ohne soliden Reichtum als Grundlage läßt sich mit der staatlichen Macht in der Gesellschaft nicht viel anrichten, bei erlassener Eigentumsordnung aber erhält dessen private Nutzung die staatliche Macht am Leben und gereicht der ,.Allgemeinheit zum Wohle“. Einig in der Absicht,

„dem deutscheu Volk die Möglichkeit zu geben, die Grundsätze und Vorteile einer freien Wirtschaft kennenzulernen“ (Richtlinien der amerikanischen Regierung an den kommandierenden General der Vereinigten Staaten in Deutschland, General Lucius D. Clay, veröffentlicht am 17. Juli 1947),

„die deutschen Massen dürfen uns nicht zur Last fallen und erwarten, jahrelang von den Alliierten ernährt, organisiert und erzogen zu werden“ (Churchill, Unterhausrede vom 11.8.1945),

hatten die Siegermächte dieser Entscheidung schon vorgearbeitet und taten auch im Rahmen des Marshall-Plans das ihre, um das Eigentum auf gesunde Füße zu stellen. Schließlich war ihr Zweck nicht

„die Unterstützung, sondern die Besetzung Deutschlands, um gewisse wichtige alliierte Absichten zu verwirklichen“ (Direktive an den Oberkommandierenden der Okkupationstruppen der Vereinigten Staaten hinsichtlich der Militärregierung für Deutschland vom April 45).

Im festen Glauben an die gedeihlichen Wirkungen des Kapitals haben die Väter des GG die deutschen Bürger also zweigeteilt: Allen haben sie die Menschenwürde gegeben, den einen aber die Menschenwürde und den Gebrauch des Eigentums. Denn daß ein Eigentum von 40 DM dann keines mehr ist, wenn sie verfressen worden sind, während ein Grundstück, ein Gebäude drauf und ein übriggebliebenes Werkzeug sich zu etwas ganz anderem verwenden lassen, konnten sie wohl kaum übersehen haben. Insofern haben sie also schon das Schicksal der künftigen Generationen geprägt, und von diesen war es nunmehr abhängig, ob die Verfassung zu etwas geraten würde, von dem sich 30 Jahre später sagen läßt, daß es sich bewährt hat. Das deutsche Volk hat sie nicht enttäuscht, was entgegen anderslautenden Gerüchten kein Charakterzug ist. Die eine Seite hat ihr Eigentum im richtigen Sinne genutzt, und die andere hat begonnen zu schaffen auf Teufel komm raus, für jeden Lohn und unter allen Bedingungen, wofür es zwar keine charakterliche, wohl aber eine andere Disposition gab: Lohnarbeit, der Dienst am Eigentum unterscheidet sich in einigen Punkten doch merklich vom Kriegsdienst, der die Jahre zuvor verrichtet werden mußte. Der deutsche Staat hat sich seinerseits nicht lumpen lassen und ist nicht bei den abstrakten Regelungen seiner Verfassung stehen geblieben. Zum einen war ja noch von früheren deutschen Ordnungen ein ziemlicher Schatz an Gesetzen mit der dort erprobten Regelung von Konflikten verblieben, der einfach wieder in Kraft gesetzt werden konnte; bei der Überprüfung mußten schließlich überraschend wenige der alten Gesetze abschlägig beurteilt werden. Zum anderen ließ man sich genug neue Regelungen einfallen, die Erfahrungen der erprobten Demokratie waren dabei nicht unnützlich und die Betreuer noch längere Zeit im Lande.

Bei der Feier von 30 Jahre GG dürfen sich also alle Parteien miteingeschlossen wissen ins öffentliche Lob: die Väter ebenso wie die stattliche Anzahl ihrer Nachfolger in den Regierungen, die Repräsentanten deutschen Unternehmungsgeistes ebenso wie die, deren Bereitschaft zur Mitwirkung wie in den letzten 30 Jahren der jetzige Kanzler zutiefst in ihnen selbst verankert wissen will:

„Sie werden aus sich heraus leisten. Es liegt im Menschen drin, zumal im Deutschen.“


Das GG gilt so viel, wie der BRD-Staat zustande bringt

Mit der staatsdienlichen Entscheidung fürs Privateigentum haben die Väter der Republik einige Konflikte in die Welt gesetzt – versehen mit der Vorschrift, daß jetzt so zusammengelebt werden muß –, und bei jedem dieser vorgesehenen Konflikte ist ihnen auch schon im Prinzip das Richtige eingefallen, wie sie zum „Wohle der Allgemeinheit“ zu verlaufen haben. Im Prinzip – denn Prinzipienreiter waren sie wiederum keine und haben bei der Abfassung der entscheidenden Artikel über das, was man darf und was man nicht darf, immer gleich den Hinweis auf deren bedingte Gültigkeit und damit den Auftrag zu deren Ausgestaltung beigefügt – vorausahnend, daß eine lebendige Ordnung ihre Erhaltung als ständige Ordnungsaufgabe zu erfüllen haben wird.

Wohl wissend, daß dem „Wohl der Allgemeinheit“ die Freiheit der Eigentümer und Eigentumslosen nur zuträglich sein kann, sich den ihnen gegebenen Bedingungen gemäß ,,frei zu entfalten“ und „Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“, wurde sie ihnen gewährt; nicht ohne jedoch ebenso grundgesetzlich auf die Schranken hinzuweisen, die die an beide Seiten verteilten Freiheiten aneinander, also am staatlichen Willen finden, sich den Klassengegensatz durch volle Gleichheit vor dem Gesetz zu erhalten. Entfaltet wird sich also und frei gewählt innerhalb dessen, was die Freiheit der anderen zuläßt. Und wenn diese nur ruinöse oder nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, hat sich die Entfaltung der auf Arbeit angewiesenen Persönlichkeiten eben danach zu richten. Die unter dem schönen Titel „Arbeitsförderungsgesetz“ vollzogene Ausgestaltung von Artikel 12, insbesondere von Absatz 2: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden“, u.a. die Regelung all dessen, was unter den jeweiligen Konjunkturbedingungen an Arbeit „zumutbar“ ist, präsentiert ja auch nicht mehr als gewisse Entscheidungshilfen bei der Wahl des Arbeitsplatzes, die mit dem drohenden Entzug staatlicher Unterstützungsleistungen für die erforderliche Verantwortung beim Gebrauch dieser Freiheit sorgen. Daß dabei immer eine gewisse Anzahl renitenter Jugendlicher oder auch älterer asozialer Elemente den freiheitlich gebotenen Alternativen nichts abzugewinnen weiß und daher dem geregelten Erwerbsleben den Rücken kehrt, ist der Preis der Freiheit, den besondere Aufsichtsinstanzen für all die Fälle abweichenden Verhaltens wiederum gering halten. Dank der lebendigen Benützung der Freiheitsrechte durch die übergroße Mehrheit verfügt die 30jährige Republik über den vollen Bestand entfalteter Persönlichkeiten, der auf Grundlage staatlich geschützten Eigentums gebraucht wird: ein zahlreiches, von niemand anderem als dem eigenen Interesse zum Lebenserwerb gezwungenes und den Bedürfnissen des Eigentums gemäß gegliedertes und ebenso mobiles Proletariat samt seinen technischen, betriebswirtschaftlichen und sonstigen Aufpassern und all den Figuren, die aus dessen Gesundheitsreparatur, Aufzucht und sonstigen Lebensnotwendigkeiten ihr Geschäft machen.

Die unvermeidlich anfallenden Kollisionen zwischen den zweigeteilten Bürgern vorausahnend, haben die Väter auch gleich noch deren Zusammenschluß gegeneinander als Koalitionsfreiheit durch die staatliche Gewalt gebilligt, um den Verlauf der Auseinandersetzungen mit der Auflage zu versehen, daß er das Wohlergehen des Ganzen zu fördern habe:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ... ist gewährleistet.“ (Art. 9,3)

Dem Auftrag des GG folgend, daß der Kampf um die Existenznotwendigkeiten sich am Fortbestand der Wirtschaft zu relativieren hat, die ihn immer wieder notwendig macht, haben die GG-Vollstrecker schon 52 der Ausbeutung im Betrieb Rechtsfrieden zugesichert und per Betriebsverfassungsgesetz ihrer Abwehr außerhalb der Stätten der Produktion ihren Platz zugewiesen, der Schaden vom Staat abwenden sollte und vom DGB gemeinnützlich ausgefüllt wird. Weitere Beschlüsse zur rechtlichen Disziplinierung des Klassenkampfes, verbunden mit erzieherischen Maßnahmen gegen uneinsichtige Teile der Gewerkschaften, wie Landesverratsprozesse gegen Kommunisten, schnell und zügig in den 50er Jahren erledigt, haben seitdem ihre Früchte getragen. Nicht nur, daß die freiwillige Selbstverpflichtung der Arbeiterrepräsentanten aufs Betriebswohl – Mitbestimmung genannt –. verfassungsgerichtlich als wertvolles Element der Marktwirtschaft anerkannt ist. Als Sozialpartner in die Pflicht genommen und darin ihre edelsten Gefühle gewürdigt wissend, bewährt sich die schwarz-rot-goldene Gewerkschaft konjunkturgemäß an ihrer Aufgabe zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Ihre Spitzenfunktionäre dürfen daher heuer sogar als Staatsmänner nach Europa.

Die von ihnen Vertretenen genießen derweil im Rahmen ihrer freien Entfaltung an ihren Arbeitsstätten das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2), denn schließlich bedeutet die Garantie des Lebens nicht die der Lebensmittel. Und bei der Anstrengung, sich die zu beschaffen, hackt ihnen ja nicht der Chef die Hand ab, sondern ihre eigene Unvorsichtigkeit und Nichtbeachtung der Sicherheitsvorschriften kostet sie ab und an einige Gliedmaßen. Überhaupt lauern die eigentlichen Gefahren für Leib und Leben in der ungesunden Lebensführung, wie übermäßiger Genuß- und Vergnügungssucht, und nicht etwa in der staatlich sanktionierten Zerstörung des Lebens. Denn, wie ein Afterphilosoph auf dem Ministerpräsidentensessel zur Atomdebatte abschliessend bemerkt, „daß es kein Leben ohne Gefahr gebe“ (Albrecht 17.5.), es ist das Leben selbst, das sein Recht zur Selbstzerstörung benutzt. Und wenn der Staat diesem Prozeß durch seine Gesetzgebung nachhilft, so hat das GG auch diesen Fall bereits vorgesehen:

„In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Die Gewalt, die Leben und körperliche Unversehrtheit von sich selbst abhängig macht, muß eben auch über sie verfügen dürfen.


Planmäßige Entfaltung ausreichender freier Persönlichkeiten

Was gewisse Vorveranstaltungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit betrifft, wie sie Artikel 7 mit der staatlichen Aufsicht über das Schulwesen vorsieht, bezüglich der Ausgestaltung dieses Verfassungsauftrags brauchen sich die Verantwortlichen ebenfalls nichts vorwerfen zu lassen. In Schul- und Hochschulreformen haben sie die künftigen Persönlichkeiten dazu angehalten, den Wettstreit, wer sich zu was entfalten darf, vermehrt zu ihrem Anliegen zu machen, um damit eine gewisse Vorauswahl hinsichtlich der freien Berufswahl durch die eigene Beteiligung seiner Bürger treffen zu lassen. Auch der Bestand persönlichkeitsbildender Werte ist, soweit notwendig, dem Anliegen eines modernen Staatswesens entsprechend aufgefrischt worden. Unterstützt durch die vom GG freigelassene Wissenschaft, die zum Dank ihren ebenfalls vom GG erteilten Auftrag zur Verfassungstreue in aller Freiheit – auch und gerade von den Erfordernissen der Wahrheit – und allem gebotenen Eifer wahrnimmt. Daß ihr in diesem Eifer zunehmend die Werte des Vorgängerstaates, soldatische und ähnliche Tugenden attraktiver vorkommen, wer will ihr das verdenken? Es ist nun einmal das Vorrecht des freien Geistes, die Zukunft vorwegzunehmen, die seine Auftraggeber in der ihnen eigentümlichen Sorgfältigkeit vorbereiteten.

Wird staatlicherseits also alles dafür getan, dem Auftrag zur Bildung freier – d.h. in den Regeln der Freiheit bewanderter – Persönlichkeiten nachzukommen, so trübt nur ein kleiner Fleck das Bild des insgesamt imponierenden Staatslebens auf dem Boden des GG, der in letzter Zeit Artikel 6 wieder mehr Beachtung verschafft hat:

„Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz der staatlichen Ordnung.“

Zu der den Eltern „zuvörderst obliegenden Pflicht“, „Pflege, und Erziehung der Kinder“, gehört nämlich auch die Bereitschaft, genügend Kinder zu machen. Der staatliche „Schutz“ hat sich in seiner 30jährigen Existenz allerhand Paragraphen einfallen lassen, um das Zueinanderfinden zweier Herzen durch allerlei Druckmittel in den Ehestand hineinzunötigen und durch Scheidungs- und Versorgungsrecht vom leichtfertigen Verlassen dieses heiligen Standes abzuhalten. Der Bereitschaft der Mitglieder dieser Keimzelle jedoch, zusätzlich zu den Lasten, die ein zu diversen Versorgungszwecken ausgenütztes und dadurch weidlich strapaziertes Liebesverhältnis mit sich bringt, auch noch die der Kinderaufzucht auf sich zu nehmen, muß nachgeholfen werden. Der glückliche Umstand, daß das Staatsjubiläum auf das Jahr des Kindes trifft, gehört daher ausgenützt: Ein Volk, das seine Freiheit auch in Zukunft sichern will, muß dieser Aufgabe nicht zuletzt durch die Produktion zahlreicher Nachkommen gerecht werden, die ein Leben in Freiheit benötigt. Der „Schutz des Lebens“ schließt daher gerade auch das des ungeborenen ein – und nur der Nachweis, daß beim besten Willen aus dem neuen Leben kein staatlich brauchbares zu machen sein wird, sei es aus Gründen der Gesundheit oder übergroßer Armut, entläßt die werdenden Mütter aus ihrer diesbezüglichen Verantwortung. Die Restlichen haben sich vor Augen zu halten, daß der Zwang zur Aufbesserung des gemeinsamen Haushaltgeldes dann zu purem und durch und durch asozialem Egoismus ausartet, wenn er gegen den obersten Zweck der Familie ausschlägt.


Das Recht auf ein verstaatlichtes Seelenleben

Neben handfesten familienpolitischen Entscheidungshilfen ist dies jedoch letztlich eine Frage des Gewissens, mit dem die junge Bundesrepublik ihre Bürger schon im Artikel 4 beauftragt hatte. Und daß dieser die ,,Freiheit des Gewissens“ für „unverletzlich“ erklärt, ist nicht als idealistische Phrase mißzuverstehen. Daß seine Bürger sich ein Gewissen machen, mit dem sie ihre und die Taten anderer auf deren Rechtlichkeit begutachten, dieses Anliegen des GG hat sich verwirklicht, wie es der erfreuliche Zustand der öffentlichen und privaten Moral dokumentiert. Das völkische Rechtsbewußtsein, wie es sich nur allzu gerne an der Frage der Todesstrafe für soziale Schädlinge wie Kinderverführer und Terroristen betätigt – im unerschütterlichen Glauben daran, daß der Lohn durch Leistung verdient zu werden hat, auch wenn das Verhältnis beider für die Leistenden immer ungesünder wird –, diese freiwillige Verstaatlichung des Seelenlebens ist in der Tat eine „unverletzliche“ Stütze des Rechtsstaats. Nur allzu berechtigt ist daher auch die Prüfung, ob es sich bei der Inanspruchnahme des Gewissens seitens unbotmäßiger Bürger wirklich auch um ein solches handelt. Absatz 3:

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“

machte daher auch eine Ausgestaltung dringend notwendig zu dem Zeitpunkt, von dem ab es die Freiheit wieder mit der Waffe zu verteidigen galt.

Die weise Voraussicht der Väter, hinter Artikel 12 noch Artikel 12a offenzulassen, damit Adenauer mit der Koreakrise im Rücken ein weiteres Grundrecht, das auf Kriegsdienst, erobern und die Stelle im GG ausfüllen lassen konnte, hatte glücklicherweise auch schon das Antikriegsgewissen der näheren Prüfung durch ein Bundesgesetz anempfohlen.

In Zeiten, in denen die moralische Überlegenheit der Entscheidung zum Dienst mit der Waffe längst außer Zweifel steht, sind die kleinlichen Befragungen, was tun, wenn der Russe mit der MP in der Hand Mutter und Schwester vergewaltigt und Vater skalpiert, nicht mehr zeitgemäß. Vor allem praktische Privilegien (3 Monate länger im permanenten Sozialmanöver) müssen dafür einstehen, daß die Bereitschaft zum Opfer für den Staat nicht durch unangebrachte Gewissenhaftigkeit der Jugend gefährdet ist.


Die eigene Meinung zur Staatsgewalt

Ebenso hat sich die grundgesetzliche Erlaubnis der Staatsgewalt, sich als Bürger eine Meinung halten und äußern zu dürfen, in den 30 Jahren voll ausgezahlt. Gewisse Anlaufschwierigkeiten von Staatsagenten, die die Nützlichkeit einer institutionalisierten öffentlichen Begutachtung ihrer Politik zur Bildung der Volksmeinung noch nicht ganz eingesehen hatten, und von Meinungsmachern, die meinten, die Demokratie immer noch erst durchsetzen zu müssen, sind längst überwunden. Aus Querelen wie der Spiegelaffäre haben beide Seiten gelernt: die verantwortungsvolle Reflexion auf die Befindlichkeit der Instanz, die das Meinen schließlich gestattet, bildet das Rückgrat der freien Presse, und die Regierenden bekunden ihren Respekt vor den Medien durch ihre ständige Präsenz in Wort und Bild. (Schließlich hat man ja inzwischen auch ein aufgeklärtes Volk, vor dem kaum mehr etwas geheimgehalten zu werden braucht. Umgekehrt, die offene Information über das, was ihm blüht an notwendigen Lebensrisiken, kennzeichnet das die öffentliche Meinung beherrschende Vertrauensverhältnis.) Alle zusammen nebst leserbriefschreibendem Volk schließlich empören sich einhellig, wenn ein Haufen von Holländern das Recht auf freie Meinungsäußerung mißbraucht dadurch, daß sie 1. eine widerborstige haben und sich 2. weigern, durch ordentliche Fragen, wie es sich für einen Meinungshalter gehört, sich 3, von unserem Kohl eine andere beibringen zu lassen.


Allgemeiner Ausbau der demokratischen Rechte

Ein paar weitere Grundrechte schließlich, die auf friedliches Versammeln, Vereine bilden, auf unverletzliches Post- und Fernmeldegeheimnis und unverletzliche Wohnung, die allesamt der sie gewährenden Instanz schon ihre „Einschränkung“ zugunsten der Abwehr einer „gemeinen Gefahr“ anheimgestellt hatten, erfreuen sich durch die 30 Jahre ihrer Geltung hindurch genauester Beachtung durch die sie verwaltenden Organe. Die grundgesetzwidrige Rechtsunsicherheit nämlich, in die die Staatsgewalt immer dann geraten mußte, wenn sie zur Erkundung möglicher „gemeiner Gefahr“ etliche Geheimnisse oder Wohnungen verletzte oder zur Vermeidung solcher Gefahren das Versammeln und Vereinebilden mit gewissen Konditionen versehen mußte, diese Unsicherheiten sind durch rege gesetzgeberische Tätigkeit der letzten Jahre fortschreitend beseitigt, und der sichere Boden des GG ist durch Konkretisierung der Vorbehalte, unter denen diese Rechte gelten, für deren Hüter immer weiter ausgedehnt worden. Ob nun verdächtige Wohngemeinschaften den Polizeiwagen immer vor der Tür stehen haben, heimkehrende Terroristen in ihrer Wohnung in den Rücken geschossen werden oder das Tragen von Ölmänteln zum Indiz einer nichtfriedlichen Versammlung erklärt wird, weil die Polizei den Frieden mit Wasser und Tränengas herzustellen pflegt – Grundrechte, so schön und idyllisch sie in manchen Ohren auch klingen mögen, werden eben nicht dazu gewährt, sie gegen den Willen desjenigen, der sie erläßt, zu benutzen.

So ist dem Geist des GG durch die Konkretion aller Grundrechte hinsichtlich ihres staatsdienlichen Gebrauchs in 30 Jahren BRD Genüge getan worden, und auch die prinzipiellen Regelungen bezüglich der Form, in der über die grundberechtigten Bürger geherrscht werden soll, sind von den jeweiligen Inhabern der Herrschaft zur Veranstaltung einer lebendigen, seit längerem schon zum Modell erklärten Demokratie benützt worden.


Eine wohlbestellte Parteienlandschaft

In Beherzigung der schlechten Erfahrungen mit den beiden Vorgängern auf deutschem Boden beschlossen die GG-Väter derzeit, die Staatsgewalt nunmehr in geordneter Form alle 4 Jahre vom Volk ausgehen zu lassen und ihm für die Bildung eines brauchbaren politischen Willens Parteien mit ebensolchem Verfassungsauftrag an die Seite zu geben. Zusätzliche Einflußnahme auf die Führung der Staatsgeschäfte, die nur überflüssige Störungen im Gang der Politik verursacht hätten, wie die plebiszitären Unsitten der Weimarer Republik, sollte die neue Republik durch den geregelten Streit der Repräsentanten und Parteien vermeiden. Auch hier hat ihnen der Erfolg, unterstützt durch ein paar Gesetze, recht gegeben. Immerhin gelang es in bloß 4 Wahlperioden, die anfänglich im Bundestag anwesenden 11 Parteien auf die 3(4) heute dort noch seßhaften zu reduzieren. In einem Fall mußte zwar zu einem häßlichen Verbot gegriffen werden, doch daß der Volkswille nicht ernstlich mit der KPD den Brückenkopf des feindlichen Staates auf deutschem Boden wollen konnte, ließ er sich schnell beibringen. Und daß Weltanschauungs- oder Interessenparteien keine tauglichen Anwärter für die Verwaltung des Allgemeinwohls sind, auch diese Lektion wurde bald gelernt. Daß sich Erwartungen des Wählers bezüglich politischer Maßnahmen seiner Regierenden zugunsten seines besonderen Anliegens in ein Staatsprogramm aufzulösen haben, das mit dem Versprechen, wenn die Wirtschaft erst wieder ordentlich in Schwung gebracht worden ist, wird schon alles Notwendige anfallen, den Wählerwillen auf sich vereinigt und damit zu einer soliden Grundlage der Politik macht – diese Einsicht erarbeitete sich das deutsche Wählervolk ohne allzu große Mühe, unterstützt durch gewisse wahlrechtliche Regelungen, die an den Realismus appellieren, die Stimme doch lieber gleich bei den Parteien abzuliefern, die groß genug sind, um daraus Politik machen zu können.

Und nicht zuletzt durch die Vereinigung auf die 3 großen catch-all-parties, wie sie alle ehrbaren Demokratien aufweisen, haben die 30 Jahre die endgültige durch den Faschismus geläuterte Reife der Deutschen für die Demokratie bewiesen. Die drei großen Alternativen bewerkstelligen die saubere Sortierung des Wählerwillens, so daß allemal eine stabile Regierung zustandekommt, während sich eventueller Unmut der Regierten 4 Jahre lang in die Hoffnung auf Durchsetzung des Programms einer ebenso konstruktiven Opposition verwandeln darf. Der erbittert einmütige Streit, ob die Freiheit zum Arbeiten und Profitemachen mit eher sozialem, konservativem oder liberalem Antlitz ausgestattet werden soll, sorgt für Spannung im politischen Alltag und hat die Massen schon 30 Jahre lang ebenso eifrig zu den Urnen eilen lassen wie der Vergleich des Führungspersonals, das die Parteien anbieten, ihre politische Urteilskraft geschärft hat. Schließlich hat sich auch der Wechsel je nach dem Gespür für die Erfordernisse des Staates dank dieser Urteilskraft vollzogen – vom Kalten Krieg zur Entspannung, zur friedlichen Ausplünderung feindlicher Staaten, vom Wirtschaftswunder zum Ausbau des Sozialstaates, zur gesetzlichen Funktionalisierung der Opfer des Wachstums für dessen Bedürfnisse, und dank der geschlossenen Arbeitsfront zur dauerhaften Eroberung des Weltmarkts.


Kontinuität im Wandel

Auch die Trennung der Regierungsgeschäfte vom unmittelbaren Einfluß seitens der Wähler ist dem deutschen Staat rundum gut bekommen. Die grundgesetzlich geplante Kanzlerdemokratie, die dessen Position durch Mehrheiten im Parlament abstützt (anstatt die Exekutive wie Weimar seinen Präsidenten dem unzuverlässigen Willen der Massen auszusetzen) und gegenüber dem Parlament durch Verpflichtung auf ein konstruktives Mißtrauensvotum stärkt, spricht sich in der gesamten Reihe imponierender Kanzlerfiguren selbst ihr schönstes Lob (vgl. MSZ-Galerie Großer deutscher Politiker). Mit dem je situationsspezifisch notwendigen Feingefühl, befreit von der Notwendigkeit, ihre Linie opportunistisch für die Sicherung schwankender Mehrheiten preisgeben zu müssen, haben sich die deutschen Kanzler um die Festlegung der Richtlinien der Politik verdient gemacht und haben sich jeweils in voller charakterlicher Eigenart ganz in den Dienst nationaler Größe eingebracht. Sei es in der Adenauerschen Bescheidenheit und Listigkeit, wie sie dem Verliererstaat gebührt, der seine Wiederaufnahme in die Staatenwelt vorwärtstreibt, im Brandt-Pathos der Friedens- und Versöhnungsphrasen, wie es den Übergang zur Öffnung des feindlichen Blocks fürs deutsche Kapital vorbereitete, sei es schließlich in der eitlen Selbstgefälligkeit und Arroganz, mit der Deutschland heutzutage seine wiedererrungene Führungsposition ausstaffiert. An dieser Stelle gebührt natürlich den Parteien der entsprechende Dank (den sie sich aus der Staatskasse kräftig honorieren lassen): anstatt sich mit einem Führer zu verschleißen, hat die bundesdeutsche Demokratie durch ihre Parteien die untauglich Gewordenen rechtzeitig absägen lassen und immer wieder neue tatkräftige Führungsmannschaften hervorgebracht bis hin zu den zahllosen Unterführern auf Landes- und Kommunalbühnen, wo das demokratische Wählervolk noch einmal so oft seine Stimme der Machtausübung und dem Machtwechsel seiner Verwalter zugute kommen lassen darf.


Vorsorge für den Ernstfall

So sehr aber im Leben der BRD das grundgesetzlich geplante Ausgehen-lassen-der-Gewalt- vom-Volke-aus der Kontinuität und Solidität der Staatsgewalt förderlich ist, ebensosehr muß eine vorausplanende Staatsgewalt auch auf die Fälle vorbereitet sein, in denen sie ihren Erhalt durch den Verzicht auf die demokratischen Prozeduren garantiert. Daher 1. die Wiederausstattung der BRD mit einer Armee, wie sie nun einmal zu jedem ordentlichen Staatswesen dazugehört, das die Gewalt, die es nach innen ausübt, auch nach außen sichern muß, im Rahmen des Bündnisses und unter Aufsicht der Bündnispartner, versteht sich, dementsprechend die Komplettierung des GG um die entsprechenden Artikel; 2. die Regelung des „Verteidigungsfalles“ nach innen, die Notstandsgesetzgebung, mit der 69 die ökonomisch sanierte und auch international dementsprechend gewürdigte BRD in ihrer Verfassung schriftlich niederlegte, daß die Demokratie ein Verfahren zur Ausübung der Staatsgewalt ist, dementsprechend kein Selbstzweck und daher abtreten muß, sobald sie einer effektiven Fortsetzung dieses Geschäfts hinderlich wird.
Eben diese Ahnung von Sinn und Zweck gesetzlicher Festlegungen bezüglich der Form der Staatsgewalt ist es aber auch, die gekonnte Politiker schon in Friedenszeiten auszeichnet: die Erkenntnis, daß wirkliches Verantwortungsbewußtsein für die höhere Realität des Staates sich auf Seiten der Regierenden darin erweist, das GG zum richtigen Zeitpunkt nicht „unterm Arm zu tragen“. Sei es bei Flutkatastrophen, was noch dem letzten Trottel einleuchten muß:

„Wir haben damals das Grundgesetz und die Hamburgische Verfassung und andere Gesetze übertreten, wissentlich und willentlich.“ (H. Schmidt im STERN),

sei es bei Gefährdungen anderer Art, der „Seuche des Terrorismus“:

„Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles (er meint: MOGADISCHU) nicht verfassungsrechtlich untersucht haben.“ (bekanntlich war der Verfassungsbruch hier ja Anlaß für einen Staatsfeiertag, wo statt Anklageschriften Orden verteilt wurden!) „Man kann nicht alles regeln wollen!“ (Schmidt/SPIEGEL 3/79)

Die alberne Vorstellung, das GG binde gerade dem Staat die Hände, die sich schon damit widerlegt, daß es der Staat selbst ist, der bei eventuellen Beschwerden darüber entscheidet, was rechtens ist, gilt ebensowenig bezüglich der Handlungen der Staatsagenten: da es die Staatsgewalt selbst ist, die sich ihrem Zweck entsprechend auf rechtliche Regelungen verpflichtet, fallen Übertretungen von Seiten der Regierenden solange nicht unter die Kategorie normalen und ordinären Rechtsbruchs, wie sie gerade ihre Zweckmäßigkeit für den Bestand der Staatsgewalt außer Zweifel stellen. Weshalb ja schließlich die weisen Väter des GG schon in allen wesentlichen Artikeln die Möglichkeit vorsehen, sie – immer dann, wenn höhere Notwendigkeiten eintreten – außer Kraft zu setzen, und weshalb sich schließlich gerade die lebendige BRD-Demokratie dadurch auszeichnet, ihrem GG immer wieder durch seinen „Ausbau“ auf die Sprünge geholfen zu haben, damit es „nicht hinter der Realität zurückbleibt“.


Für ein unmißverständliches Selbstverständnis

Dank dieser kontinuierlichen Verfassungsarbeit in Abhängigkeit von den jeweiligen Lebenserfordernissen der BRD und dank der tatkräftigen Ausfüllung dieses Rahmens durch die Rechtsbürger aller Arten läßt sich nun die 30jährige Geltung der für sich genommen noch recht dürren und bescheidenen Grundlage so richtig feiern und mit ihr die Genugtuung, was aus dem Provisorium geworden ist. Was anno 49 von einem der Väter des GG über dieses noch einschränkend vermerkt wurde:

„Der Parlamentar. Rat (hat) im GG unzweideutig zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesrepublik kein eigener und endgültiger Weststaat sein sollte, nicht Produkt eines Aktes der Souveränität einer eigenen westdeutschen Nation. Darum sollte keine Verfassung im klassischen Sinn des Wortes geschaffen werden, sondern lediglich die Organisation eines Zwischenzustandes, ein Instrument, das einen Teil Deutschlands für die Zelt des Übergangs in die Lage versetzen sollte, sich innerhalb der Schranken, die durch die Besatzungswirklichkeit gezogen werden, in sich selbst und in der Welt einzurichten.“ (Carlo Schmid)

ist ja heutzutage insofern anachronistisch, als inzwischen der Weststaat BRD „in sich“ so „eigen“ geworden ist, daß er sich zunehmend die Welt imperialistisch „einrichtet“. Zugleich ist es jedoch gerade der Habitus der Vorläufigkeit, die Bescheidenheit des Verliererstaates, der immer noch nicht mehr sein will als Partner der Staaten, die er schon längst von sich abhängig gemacht hat, die sich jetzt wieder prächtig dazu eignen, den Stolz auf die eigene Stärke mit moralischer Lauterkeit vorzutragen. Die Erinnerung daran, daß wir immer noch ein geteiltes Land sind, taugt nun ebensogut dazu, den nationalen Stolz zu befriedigen, auch in den engen Grenzen wieder Großes auf die Beine gestellt zu haben, wie zur Vorbereitung darauf, daß die Aufgabe, die Freiheit zu sichern, uns noch immer gestellt ist.

Im Dienste dieses Verfassungsauftrages im weitesten Sinne gehört es dann ebenso zu der erforderlichen Festveranstaltung, zum GG selber und dem, was es gewollt und niedergeschrieben hat, ein paar klare Worte zu sagen. Sind doch 30 Jahre GG zugleich 30 Jahre seiner Interpretation. Und da die objektive Interpretation durch die gestaltenden Kräfte in Staat und Wirtschaft Grund genug zur Unzufriedenheit geschaffen haben, die in Gestalt bestimmter Vertreter meinte, Volksherrschaft als eine dem Volk förderliche und seinem Wohlergehen verschriebene Staatsgewalt und das GG als Auftrag zu diesem Unternehmen interpretieren zu müssen, steht die endgültige Beseitigung solcher in gewissen Winkeln der BRD noch existenten Unklarheiten an. Deutlich und ohne alle irreführenden demokratischen Ideale, hinter denen sich ein Staat, der international auf dem Vormarsch ist, nicht mehr verstecken braucht.


... feierliche Worte von der Wissenschaft

So gilt die Laudatio maßgeblicher Politikwissenschaftler auf einem „Forum“, das eine „Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft“, mit renommierten Festrednern bestückt, am 2. Februar in München abhielt, inzwischen einhellig einem starken Staat, in dem

„niemand ... geneigt sein (wird), das Spezifische der Bonner Demokratie in einer dauernden Artikulation des Volkswillens zu sehen.“

Hans Maier, bekannt als wehrhafter Staatsagent, -Ideologe und -moralist in einem, unterstellt zurecht bei seinen Kumpanen den Konsens in der Beurteilung des Willens der Staatsbürger als lästiges Hindernis für die notwendige Ausführung der Staatsgeschäfte und würdigt dementsprechend die Tatsache,

„daß dieser Volkswille sich ... nur alle 4 Jahre zum Ablauf der Legislaturperiode in allgemeinen Wahlen manifestieren kann. Daß hier die Ideologie unmittelbarer Volksherrschaft, der Gedanke einer Identität von Regierenden und Regierten ganz unanwendbar ist, dafür der herrschaftliche Charakter der Demokratie und ihr Führungssystem umso deutlicher hervortreten, liegt auf der Hand.“

Was Maier an den heutigen, auf dem GG errichteten demokratischen Verhältnissen solche Genugtuung verschafft, ist, daß im bestem Einvernehmen mit dem „Volkswillen“ „die politische Gewalt unabhängiger geworden ist“. Und dies – die Abtretung des politischen Willens der Individuen an das sie beherrschende Staatswesen – muß so sein. Erstens, weil das für die „kontinentalen Demokratien“ immer schon so galt:

„Herrschaft des Volkes für das Volk“ (englisch kann sich Hans auf Lincoln berufen: »a goverment of the people with but not by the people«); „mehr ist Demokratie in den modernen Staaten nie gewesen, mehr kann sie auch nicht sein. Genug, wenn sie dies ist und als solche mit der Zustimmung des ganzen Volkes rechnen kann, durch welche alle demokratische Herrschaft vorab legitimiert wird.“

Zweitens, weil die „unvermeidliche Leitung“ der gemeinen Massen durch „Vertreter des ganzen Volkes“ sich ohnehin aus der „natürlichen (!) Überlegenheit des spezialisierten Sachverstandes“ legitimiert. Und drittens, weil alles andere unweigerlich zur „Kurzlebigkeit“ und „Schwäche“ der ,,Leistungsfähigkeit“ der Staatsgewalt hintreibt.

Wo es einzig auf diese ankommt, ist es aber nicht nur überflüssig, sich allzuviele Gedanken über deren Rechtlichkeit und Grundgesetzlichkeit zu machen, ja es ist gefährlich:

„Das den Bürgern Gemeinsame ist auch das den Bürgern Selbstverständliche, und das Selbstverständliche braucht für sie nicht diskutiert zu werden. Sobald über Probleme politischer Ordnung angefangen wird zu sprechen, ist die Ordnung schon nicht mehr selbstverständlich und wo die Selbstverständlichkeit aufhört, ist die Ordnung im Prinzip schon gefährdet.“ (Prof. Ulrich Matz)


Zu neuen Ufern

Nicht einmal Bescheid wissen über sein GG braucht das Volk, Hauptsache es tut seinen Teil und sorgt dafür, daß es gilt. Und dies bewerkstelligt es vor allem dadurch, daß es seinem Staatswesen eine solide ökonomische Grundlage verschafft und die Erwartung, daß diese Dienstbereitschaft sich mit Deutschlands Aufstieg auszahlt, bei den Verantwortlichen als Zustimmung zu deren Verwaltung des nationalen Wohls abliefert. So wie es zu Beginn der Republik im unverwüstlichen Willen, sich eine Existenz zu schaffen, seine Lebenskraft dem Wiederaufbau seiner Ausbeutungsinstitutionen zur Verfügung gestellt und vor allem Artikel 14 dort mit Leben gefüllt hat. Dank dieser Aufbauleistung, die das deutsche Kapital nicht nur dazu befähigt hat, sein Arbeitsvieh vor immer größere Aufgaben zu stellen, sondern auch den Siegermächten auf dem Weltmarkt zu demonstrieren, welches Kapital ein durch Faschismus erzogenes, besiegtes Volk bei richtiger Benutzung darstellt, dank dieser, nunmehr von einem gesunden demokratischen Nationalismus gestützten, Bereitschaft zur Pflichterfüllung kann die 30jährige Republik mit der Feier ihres Geburtsaktes auch schon die nächsten Schritte ankündigen, die um der Größe der Nation willen in Angriff genommen werden müssen. Da gilt es zunächst, seine Stimme abzugeben für ein „Europa, in dem unser Wort gilt“ (SPD- Wahlwerbung) und für die Geltung „unseres Wortes“ noch etliche andere Dienste ins Auge zu fassen.

„Je mehr wir aber von uns reden machen, desto weniger verstehen die anderen (was zumindest nationalbewußte deutsche Journalisten heraushören), warum wir als viertgrößter Beitragszahler bei Einsätzen von UN-Friedenstruppen immer nur Taxi-Dienste leisten und Sanitätskolonnen schicken, aber keine eigenen Soldaten stellen.“ (STERN)

Den deutschen Arbeitsmann auch noch ein bißchen Frieden stiften lassen in der Welt – ein gelungenes Geburtstagsgeschenk des Staates an sein Volk für 30 Jahre treuen Dienstes am Ganzen.

 

aus: MSZ 29 – Mai 1979

zurück zur Startseite